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  • Dunkelfeldforschung, Anzeigeverhalten

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Dunkelfeldforschung, Anzeigeverhalten

Der Begriff des „Dunkelfelds“ lässt sich definieren als die Differenz zwischen der Anzahl der „objektiv“ stattgefundenen Fälle von Kriminalität (also der Gesamtmenge derjenigen Handlungen, die bei einer juristisch korrekten Einordnung als „kriminelles Unrecht“ zu bezeichnen sind) und der Anzahl der Fälle, die in der PKS als amtlich bekannt geworden ausgewiesen werden. 

Die Erfassung von Straftaten ist aus vielerlei Hinsicht unzuverlässig. Die PolizeibeamtInnen können bei der rechtlichen Einordnung eines Geschehens einem Irrtum unterliegen, der erst später, möglicherweise erst durch das Gericht korrigiert wird. Abzustellen ist zudem lediglich auf das Wissen der Strafverfolgungsorgane; das Wissen anderer Personen oder Institutionen von einer Straftat ist unerheblich. Der Begriff des Dunkelfeldes ist nicht identisch mit dem Begriff der „heimlichen Tat“.  Der Begriff ist aber auch nicht mit dem des „unaufgeklärten Falls“ identisch, der in der PKS zur Bildung der Aufklärungsquote herangezogen wird. Die unaufgeklärten Fälle sind diejenigen Fälle, bei denen zwar kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, bei denen die Tat aber den Strafverfolgungsbehörden bekannt geworden ist. Viele tatsächliche Vorgänge, die juristisch als „kriminelles Unrecht“ einzuordnen sind, werden von den Geschädigten erst gar nicht zur Anzeige gebracht und entziehen sich so der Kenntnisnahme durch die Strafverfolgungsorgane. Die Gründe, die eine Person zum Unterlassen der Anzeigestellung bewegen, sind vielfältig.

Die Entscheidung, eine Strafanzeige zu erstatten, ist das Ergebnis eines komplexen Wahrnehmungs- und Bewertungsvorgangs. Im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse wägt das Opfer einer Straftat bzw. eine nicht selbst geschädigte Zeugin/ ein nicht selbst geschädigter Zeuge die Gründe ab, die für und gegen eine Anzeige sprechen. Der Aufwand ergibt sich aus der Belastung, die mit der Anzeigeerstattung und dem späteren Verfahren verbunden ist. Der Nutzen einer Anzeige wird individuell sehr unterschiedlich in stärkerer Abhängigkeit von der Deliktsart eingeschätzt. Die Bereitschaft eine Anzeige zu erstatten, ist besonders hoch, wenn der Prozess der Anzeigeerstattung als nicht zu langwierig eingeschätzt wird und wenn verschiedene Wege zur Anzeigeerstattung zur Auswahl stehen. Der Aufwand und die Belastung für das Opfer einer Straftat führen dazu, dass die Hälfte aller Viktimisierungen nicht angezeigt werden und daher eine Strafverfolgung unterbleibt. 

Die Unannehmlichkeiten und Unwägbarkeiten eines Strafverfahrens (Behandlung durch die Polizei, Zeugenaussage vor Gericht, Ausgang des Verfahrens) halten viele Opfer von einer Anzeigeerstattung ab. Dazu kommt die Sorge, dass die eigene Aussage als nicht glaubhaft angesehen werden könnte, sowie die Scham, dass man Opfer einer Gewalttat geworden ist. Vorherige, subjektiv wahrgenommene, negative Reaktionen der Polizei können ebenfalls dazu führen, dass das Opfer einer Straftat von einer Anzeigeerstattung abzieht bzw. aus Angst oder Furcht vor erneuten negativen Reaktionen von einer Anzeige Abstand nimmt. Weiterhin haben einige Opfer von Straftaten die Befürchtungen, dass die Polizei ihnen nicht helfen wolle, dass der Kontakt mit der Polizei negative Auswirkungen für sie haben wird oder dass sie von den zuständigen BeamtInnen nicht ernst genommen werden. Manche Opfer verdrängen das Geschehen oder rechnen sich ihre Viktimisierung als eigenes Versagen an. Unter Umständen werden sie oder fühlen sich vom Täter bedroht (v.a. bei häuslicher Gewalt). Jedenfalls ist die Anzeigewahrscheinlichkeit umso geringer, je enger das Verhältnis von Opfer und Täter ist/war.

Teilweise erkennt die Geschädigte/der Geschädigte die Strafbarkeit gar nicht oder hält die Aufklärung der Straftat für unwahrscheinlich bzw. den angerichteten Schaden für gering. Dabei hängt das Anzeigeverhalten weniger von der objektiven Schwere der Tat als von der subjektiv empfundenen Schwere und der Tathäufigkeit ab. Sollte keine Schadensversicherung eingreifen, wird häufig auf eine Anzeige verzichtet. Nicht wenige Geschädigte wählen den Weg der außerstrafrechtlichen Regelung, weil ihnen der Täter bekannt ist; gerade jüngere Opfer bevorzugen informelle Mechanismen der Konfliktregelungen.  

Unterschieden wird das relative Dunkelfeld, das durch gezieltes Fragen aufgehellt werden kann, vom absoluten Dunkelfeld, das selbst mit Mitteln der Dunkelfeldforschung (v.a. Täter- oder Opferbefragung) nicht zu erkunden ist. Denn Taten können nicht oder fehlerhaft berichtet werden, z.B. weil Opfer sie nur als Belästigung – und nicht als Straftat – wahrgenommen oder sie schon vergessen haben. Die kriminologische Erforschung des Dunkelfelds geht in zwei Richtungen: 

Zum einen bemüht sich die Forschung um die quantitative Erfassung der „objektiv“ stattgefundenen, der Polizei aber nicht bekannt gewordenen Fälle von Kriminalität und versucht, ihren Umfang und ihre Strukturen deutlich zu machen. Das Ziel dieses Forschungsansatzes besteht darin, einen genaueren Zugang zur Kriminalitätswirklichkeit zu gewinnen und dabei auch Aufschluss über solche tat-, täter- und opferbezogenen Umstände zu erhalten, die in der PKS nicht ausgewiesen sind. 

Zum anderen bemüht sich die Dunkelfeldforschung darum, das Verhältnis zwischen Dunkelfeld und Hellfeld genauer aufzuklären und anzugeben, wie viele Taten im Dunkelfeld bleiben, wenn der Polizei eine Tat bekannt wird. Ausgedrückt wird dieses Verhältnis von unbekannt gebliebener und bekannt gewordener Kriminalität durch die „Dunkelziffer“. Kenntnis dieser Dunkelziffer ermöglicht Angaben zu der Größe des Ausschnitts aus der „tatsächlich“ begangenen Kriminalität, der sich inder PKS abbildet. Eine feste Relation zwischen Hell- und Dunkelfeld kann nicht bestimmt werden, weil dafür alle Erfassungsfaktoren (z.B. Anzeigeverhalten, Kontrollstrategien der Polizei, statistische Erfassungsdeterminanten) über lange Zeiträume unverändert bleiben müssten.

Die Erforschung des Dunkelfeldes erfolgt durch viele thematisch, zeitlich oder im Befragtenkreis begrenzte Einzelfallforschungen. Die Befragungen richten sich häufig an SchülerInnen und Studierende, weil diese Gruppen für die Interviewer gut zugänglich und in der Regel auskunftswillig sind. Die Untersuchungsergebnisse haben grundsätzlich im befragten Personenkreis Aussagekraft. Problematisch ist, dass gerade stark belastete Personen mit hoher Opferanfälligkeit (wie z.B. Obdachlose, Insassen von Heimen, Inhaftierte etc.), bei den Befragungen nicht erreicht werden. Weiterhin stellen die methodischen Grenzen einer Befragung ein Problem dar. So erschweren Erinnerungslücken der Befragten und Verständlichkeit der Fragestellung eine Erhebung. Opferlose Delikte können mit einer Opferbefragung nicht ermittelt werden, ebenso wenig Delikte, die mit großer Scham verbunden sind. Bei einer Täterbefragung besteht das Risiko, dass sich ausgerechnet die Gruppe der mehrfach Auffälligen verweigert, die etwas zu berichten hätte. Bei schweren Straftaten spielt die Angst vor Entdeckung eine Rolle.

Auf Grundlage der Befragungen lässt sich festhalten, dass in der sozialen Wirklichkeit deutlich mehr Straftaten begangen werden, als sich aus der PKS ergibt. Ungefähr die Hälfte der begangenen Viktimisierungen kommt nicht zur Anzeige und wird so den Justizbehörden nicht bekannt. Ein Grund hierfür ist, dass Verhaltensweisen, die nach den gesetzlichen Regelungen als Straftaten einzuordnen sind, in einigen sozialen Bevölkerungsschichten als sozial üblich toleriert werden. Für das Opferrisiko sind die Merkmale Alter, Familienstand, Häufigkeit abendlichen Ausgehens und Erwerbsstatus besonders relevant. Bei vielen Delikten tragen jüngere Personen sowie jene, die abends häufig ausgehen, ein höheres Risiko. In regionaler Hinsicht zeigte sich, dass große Stadtstaaten (wie Berlin und Hamburg) sowie die nördlichen Bundesländer eine höhere, die südwestlichen und östlichen Bundesländer hingegen eine vergleichsweise niedrige Belastung aufweisen. Dieses Bild ist recht weitgehend kongruent mit dem Hellfeld der registrierten Kriminalität. 

Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die registrierte Anzahl an Straftaten nur einen geringen Teil des tatsächlichen Geschehens ausmacht. Veränderungen des Hellfelds, also eine Zu- oder Abnahme der statistisch erfassten Straftaten, sind dementsprechend nicht zwangsläufig auf eine reale Veränderung des Kriminalitätsaufkommens zurückzuführen. Anstiege oder Rückgange der registrierten Fälle in der PKS können gleichermaßen dadurch zustande kommen, dass bei gleichbleibendem Kriminalitätsaufkommen mehr oder weniger Straftaten angezeigt werden oder bei einer gleichbleibenden Kriminalitätsrate sich die Anzeigebereitschaft innerhalb der Bevölkerung verändert. Das Anzeigeverhalten der Opfer von Straftaten ist damit ein wichtiges Indiz, um die polizeilichen Hellfelddaten und ihre Veränderungen adäquat zu interpretieren und die Kriminalitätslage in Deutschland realitätsnah einschätzen zu können.


Quellen:

  • Bock, Kriminologie, 5. Auflage 2019
  • Deutscher Viktimiserungssurvey 2017
  • Kalifeh et al. - Violent and non-violent crime against adults with severe mental illness - The British Journal of Psychiatry 206 (2015), S. 275
  • Meier, Kriminologie, 5. Auflage 2018
  • Neubacher, Kriminologie, 4. Auflage 2020
  • Schwind, H.-D.: Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 23. Aufl., Heidelberg 2016.
  • ​Sautner, Viktimologie 2014

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