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- AdresseUniversität Bielefeld
SFB 1288
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld
Das sich vergleichende Selbst im 11. und 12. Jahrhundert
Das ‚lange‘ 12. Jahrhundert ist in der Mediävistik ein viel diskutiertes, denn nicht nur eine Renaissance (Haskins) soll hier gefunden werden können, sondern auch der Beginn ‚moderner‘ Individualität (Morris). Hier möchte ich mit meinem geschichtswissenschaftlichen Dissertationsprojekt ansetzen und mich mit Individualität und deren Ausgestaltung in autobiografischen Texten des 11. und 12. Jahrhunderts beschäftigen – insbesondere mit den autobiografischen Vergleichspraktiken und deren Bedeutung für Individualitätskonstruktionen. Im Bereich der Individualität und Individualisierung kann ich auf breit vorhandene Forschungsliteratur aufbauen. Neu ist der Ansatz, speziell die autobiografischen Vergleichspraktiken zu untersuchen: Grundlegend interessiert mich nicht nur, ob und wann Autorinnen und Autoren sich vergleichen, sondern auch in welchen Kontexten und mit wem oder was sie sich vergleichen.
In seiner Historia calamitatum etwa begründet Petrus Abaelardus seine Entscheidung, Abt eines bretonischen Klosters zu werden, mit der Feindschaft seiner Person gegenüber und ordnet die Geschehnisse folgendermaßen ein:
«[S]icque me Francorum inuida ad Occidentem sicut Iheronium Romanorum expulit ad Orientem.» [1] |
«Und so trieb mich der sattsam bekannte Neid der Franken westwärts sozusagen in die Verbannung, wie der Neid der Römer den Hieronymus nach Osten getrieben.» [2] |
Wie (und warum) nutzten Autorinnen und Autoren des 11. und 12. Jahrhunderts das Vergleichen der eigenen Person, auch um die eigene Individualität zu konturieren? Denkbar ist, dass mit dem Selbstvergleichen das Erreichen, Verändern oder Sichern der gesellschaftlichen Position unterstützt werden sollte. Das Vergleichen ist eine Möglichkeit, Relationen zu schaffen – bedeutsam für eine auf Relationen aufbauende Gesellschaft. Ich frage danach, wie und warum über das Vergleichen Relationen geschaffen wurden und wann Relationierung auf andere Weise erreicht wurde. Im Beispiel gelingt es Petrus Abaelardus, über das Vergleichen eine Relation zwischen der eigenen Person und dem Kirchenvater aufzubauen. Ob es sich dabei um eine Umdeutung sowohl der Geschehnisse rund um ihn selbst als auch um Hieronymus handelt, ist für die Tatsache, dass diese Relation geschaffen bzw. betont wurde, zweitrangig. Das Motiv der Herstellung von Nähe zum Transzendenten ist ein vielversprechender Untersuchungskomplex. Hieronymus könnte hier als ‚Mittelsmann‘ Abaelards auf dem Weg zu Gott betrachtet werden. Die (offene) Frage, ob das Denken in Analogien (Foucault) prägend für die Vormoderne war, wird mich in meinem Forschungsprozess begleiten.
Autobiografische Texte aus dem 11. und 12. Jahrhundert sind zwar in eher geringer Anzahl überliefert, die vorhandenen Texte dafür jedoch durchaus umfangreich. Da die Praxis autobiografischen Schreibens eher nicht weit verbreitet zu sein schien, ist der Einsatz von Selbstvergleichen noch gewichtiger und führt zu meiner These, dass er bewusst und mit spezifischer Zielsetzung erfolgte. Die Überlieferungslage ermöglicht es mir, mich mit einigen Texten intensiv auseinanderzusetzen, wobei für mich nicht nur die Vergleichspraxis selbst, sondern auch ihr Kontext relevant ist. Als Quellen sind neben Texten, die einen hohen autobiografischen Anteil haben, solche vorgesehen, in denen sich die Autorin oder der Autor in wenigen Passagen selbst thematisiert.
Zu den Autorinnen und Autoren, mit denen ich mich beschäftige, gehören Petrus Abaelardus, Hildegard von Bingen, Guibert von Nogent, Thietmar von Merseburg und Otloh von St. Emmeram. Diese Texte wurden bereits vielfach untersucht, nicht zuletzt um (Spuren von) Individualität zu finden. Der Ansatz, der Praxis des Selbstvergleichens und Fragen nach Individualität anhand des Vergleichens nachzugehen, bietet hier eine neue Perspektive auf eine alte Frage und ermöglicht eine disziplin- und epochenübergreifende Diskussion.
Im spezifischen Kontext des SFB 1288 kann meine Arbeit vor allem zum Untersuchungskomplex des historischen Wandels beitragen. Aufgrund der Fragestellung und zeitlichen Rahmung meines Projekts steht dabei die Frage im Zentrum, ob sich Foucaults Vermutung bestätigen lässt, dass das Denken der Vormoderne von Analogien geprägt war. Darüber hinaus bietet mein Befund, dass die Parallelisierung mit herausragenden Persönlichkeiten häufige Praxis war, eine Gegenfolie, wenn es um Unvergleichbarkeitspostulate geht, die wir in unserem Teilprojekt C02 momentan eher in autobiografischen Texten der Moderne vermuten.
[1] Zitat entnommen aus: Peter Luscombe (Hg.), The Letter Collection of Peter Abaelard and Heloise, edited with a revised translation after the translation by Betty Radice, Oxford 2013, S. 94.
[2] Zitat entnommen aus: Abaelard, Die Leidengeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, übersetzt und herausgegeben von Eberhard Brost, 4., verbesserte Ausgabe, Heidelberg 1979, S. 57.