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  • Dekonversion

    © Simon A. Eugster

Die Bielefelder kulturvergleichende Forschung über Dekonversion

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Deconversion Revisited. Biographical Studies and Psychometric Analyses Ten Years Later

(Streib, H., Keller, B., Bullik, R., Steppacher, A., Silver, C. F., Durham, M., Barker, S. B., & Hood Jr., R. W. (2022))

Leitfrage

Die erste Studie über Dekonversion (2002-2005, veröffentlicht in unserem Deconversion-Buch von 2009, das nun auch Open Access erhältlich ist) hat in einer ersten Phase die Trennungs- und Ablösungsprozesse aus neu-religiösen und fundamentalistischen Gruppen in den USA und in Deutschland in den Blick genommen. In einer zweiten Phase wurde dann die Ablösung von einer Vielfalt von religiösen Orientierungen und Mitgliedschaften untersucht, wie z.B. den Austritt aus etablierten Mainstream-Religionsgemeinschaften und Kirchen. Das Ziel war, die Vielfalt von Dekonversionsprozessen in der Breite der religiösen Organisationen in den USA und Deutschland zu untersuchen. Besondere Aufmerksamkeit richteten wir auf Persönlichkeitszüge, Motivationen, Einstellungen, psychologisches Wohlbefinden, sowie auf biographische Folgen und die Prozesse religiöser Entwicklung (faith development), die mit der Dekonversion einhergehen. Leitende Forschungsfragen waren daher: Was bedeutet Dekonversion als biographische Veränderung und womit steht sie in Zusammenhang? Führt sie zu seelischem Wachstum und Wohlbefinden? Wird religiöse Entwicklung dadurch befördert? Gehen Krisen damit einher? Bedarf es professioneller Hilfe?

Seit dieser ersten Studie über Dekonversion hat das Interesse an diesem Forschungsbereich deutlich zugenommen und es wurden zahlreiche Studien durchgeführt und Ergebnisse vorgelegt (siehe Forschungsüberblicke in Steppacher et al., 2022 und Streib, 2021). Auch wir selbst haben die Untersuchung von Dekonversion weitergeführt und zu einer Längsschnittstudie ausgebaut (Streib et al., 2022).

Methode

Das Untersuchungsdesign sah narrative Interviews und Faith Development Interviews sowie Teilnahme an einem Fragebogen vor, und damit im Evaluationsprozess eine Triangulierung von qualitativen und quantitativen Instrumenten. Dabei bildete die Analyse qualitativer Daten, d.h. von narrativen Interviews und Faith Development Interviews, den Kern des Forschungsprojekts.

Im Feld haben wir eine modifizierte Version des theoretic sampling angewendet: Zuerst wurden die Dekonvertit*innen unter Beachtung des maximalen Kontrasts aufgesucht und interviewt, dann versuchten wir, jeweils zehn Teilnehmer*innen zu finden, die in der religiösen Gruppe verblieben sind, die die Dekonvertit*innen verlassen haben. Ziel war eine kontrastive Abbildung der Dekonversionserfahrungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Milieus. Auf diese Weise wurde unser Fragebogen nicht nur von 129 Dekonvertierten ausgefüllt, sondern auch von 1.067 Mitgliedern. Mit allen Dekonvertit*innen führten wir ein narratives Interview mit der Ausgangsfrage „Erzählen Sie uns, wie es dazu gekommen ist, dass Sie Ihre religiöse Gemeinschaft verlassen haben.“ Ein Faith Development Interview wurde sowohl mit 100 Dekonvertit*innen, als auch mit 177 in-tradition members, also mit insgesamt 277 Interviewpartner*innen geführt, gleichmäßig verteilt aus Deutschland und den USA.

Der Fragebogen umfasste außer demographischen Angaben und Fragen nach der „spirituellen“ vs. religiösen Selbsteinschätzung die sog. Big Five Persönlichkeitsfaktoren (NEO-FFI), die Ryff Scale of Psychological Well-Being and Growth, die Religious Fundamentalism Scale und die Right-Wing Authoritarianism Scale.

Zehn Jahre nach dieser ersten Dekonversionsstudie haben wir diese in einem Längsschnitt erweitert und versucht, möglichst viele Teilnehmer*innen zu einem weiteren Interview und einer weiteren Fragebogenteilnahme einzuladen. Leider war das Ergebnis mit n=53 Re-Interviewees recht bescheiden. Dennoch haben wir nach weiteren drei Jahren erneut zur Teilnahme an unserer Studie eingeladen und konnten dann n=39 erreichen. Das ist wenig für statistische Analysen, aber recht umfangreich für eine qualitative Studie. Jedenfalls haben wir auf der Grundlage dieses Längsschnitt-Samples Trends dargestellt und Fallstudien erarbeitet und dies veröffentlicht in einem zweiten Buch mit dem Titel, Deconversion Revisited. Biographical Studies and Psychometric Analyses Ten Years Later.

Ergebnisse

Aus der Analyse der Interviews mit den Dekonvertit*innen entstand als eines der wichtigsten Ergebnisse eine Typologie von Biographieverläufen mit Dekonversion:

  • Der erste Typ – den wir „Pursuit of Autonomy“ genannt haben – strebt, typischerweise im jungen Erwachsenenalter, nach Autonomie, aus einer als einengend empfundenen Religiosität der Herkunftsfamilie in die Freiheit selbständigen Denkens und säkularer Identität.

  • „Barred from Paradise“ – ist der meist hochdramatische Ausstieg aus einer (neu-) religiösen Gruppe, der sehr schmerzlich erlebt wurde. Die erheblichen Anforderungen an die psychische Verarbeitung lassen dann kaum neues Interesse an Religion aufkommen.

  • Der dritte Typ – „Finding a New Frame of Reference“, bei dem der Abschied von der als unbefriedigend empfundenen Religion der Herkunftsfamilie (in Deutschland ist dies typischerweise die evangelische oder katholische Kirche) mit der Zuwendung zu einer intensiven, evangelikalen oder fundamentalistischen Religiosität, die dem Leben Halt und Sinn gibt, verbunden ist.

  • Schließlich unterscheidet sich von allen anderen der Typ der lebenslangen spirituellen Suche. Dabei werden verschiedene religiöse Angebote ernsthaft ausprobiert und dann, etwa im höheren Erwachsenenalter, eine Revision einer religiösen Mitgliedschaft erwogen, in der Erwartung, dass die spirituelle Suche an einem Ziel ankommt – „Life-Long Quests and Late Revisions“.

Zusammengenommen haben zwei Drittel der von uns untersuchten Dekonvertierten (USA: 66%; BRD: 59%) das Feld religiöser Organisationen verlassen und sind keine neue religiöse Mitgliedschaft mehr eingegangen. Aus dieser Gruppe von Dekonvertierten geben 36% (USA), bzw. 59% (Bundesrepublik) an, ohne Religion zu leben (secular exit), jedoch pflegen mehr als ein Drittel (BRD: 38%, USA 40%) weiterhin ihre Religiosität, aber nur im Privaten (privatizing exit), und ein weiterer Teil (USA: 24%; BRD: 3%) der Dekonvertit*innen wendet sich einer oder mehreren neuen religiösen Orientierungen ohne Mitgliedschaftsstruktur zu (heretical exit). Dekonversion bedeutet in vielen Fällen also nicht, „den Glauben zu verlieren“ oder religionslos zu werden. Vielmehr bewegt sich etwa ein Drittel in ein nicht bzw. weniger organisiertes Segment des religiösen Feldes.

Als psychologische Merkmale für Dekonvertit*innen haben sich aus der Analyse der Fragebögen für beide Kulturen herauskristallisiert: höhere Werte für Offenheit für Erfahrung als Persönlichkeitsmerkmal, Streben nach Autonomie und persönlichem Wachstum sowie niedrigere Werte auf der Skala zur Messung von Religiösem Fundamentalismus. Aus der Evaluation der Faith Development Interviews ergaben sich für Dekonvertierte deutlich fortgeschrittene Entwicklungen.

Als „Schattenseite“ der Dekonversion haben sich bei Dekonvertit*innen in Deutschland Anzeichen einer (leichten) Krise in Bezug auf das Verhältnis zu sich selbst (Emotionale Stabilität, Selbstakzeptanz), zu anderen Menschen (Positive Beziehung zu anderen, Extraversion) und die Fähigkeit der Alltagsbewältigung herausgestellt. Dies sind Anzeichen eines Unterschieds im Kulturvergleich: In den Vereinigten Staaten ist die religiöse Landschaft anders strukturiert als in Deutschland. Es gibt ein vielfältiges Angebot an Gemeinschaften. Dekonvertierte finden dort leichter wieder Anschluss.

Diese Merkmale für Dekonvertit*nnen wurden in einer neuen Analyse unserer quantitativen Daten (Streib & Chen, in preparation) generell bestätigt. Allerdings sind nicht alle dieser Merkmale auch Prädiktoren für Dekonversion: In dieser neuen Analyse wurden alle Daten aus allen Erhebungswellen genutzt, die eine Antwort auf die Fragenbogen-Frage nach dem Verlassen einer Religionsgemeinschaft – ob, ob in neuerer Zeit, wie oft – enthalten. Auch die Frage nach eventuellen Prädiktoren für Dekonversion konnte in diesem längsschnittlichen Datensatz untersucht werden. Die Ergebnisse: Je weniger sich jemand als „religiös“ bezeichnet, religiösen Exklusivitätsansprüchen zustimmt, je weniger Extrovertiertheit und Verträglichkeit in der Persönlichkeit ausgebildet sind, und –  und dies hat uns überrascht – je niedrigere Werte jemand auf den Dimensionen psychischen Wohlbefindens (environmental mastery, positive relations with others, purpose in life, self-acceptance) aufweist, desto wahrscheinlicher ist eine Dekonversion einige Jahre später. Diese Ergebnisse legen nahe, dass viele Merkmale, besonders niedrigeres Wohlbefinden, vermutlich vorhanden waren, lange bevor eine Dekonversion stattgefunden hat.

 

Das Projekt wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und John Templeton Foundation (JTF).


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