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  • Bachmannpreis 2017

    41. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

    Campus der Universität Bielefeld
    © Universität Bielefeld

Wenn der Eismann zweimal klingelt

Ferdinand Schmalz gewinnt den Bachmannpreis 2017

Foto Sabine Seelbach

Am heutigen Sonntag, den 9. Juli wurde von der Jury der Bachmannpreisträger ermittelt und drei weitere Preise verliehen. Einen fünften Preis vergaben die Leser selbst, den mit einem Stadtschreiber-Stipendium verbundenen Publikumspreis. In der ersten Runde, der Bekanntgabe der Shortlist, wurden folgende Autoren benannt: Urs Mannhart, Barbi Marcovic, Gianna Molinari, Eckhart Nickel, Ferdinand Schmalz, Jackie Thomae und John Wray. Der Wiener Dramatiker Schmalz gewann überlegen mit einem morbiden Text über einen „gewünscht unnatürlichen Tod“ („mein lieblingstier heißt winter“). Der Eismann Franz Schlicht liefert seit Monaten dem Doktor Schauer eine Portion Rehragout für die Kühltruhe. Diesmal aber eröffnet der an Krebs im Endstadium erkrankte Schauer dem Eismann seinen Plan, sich sanft in der Eistruhe zu Tode gefrieren zu lassen. Schlicht komme die Aufgabe zu, ihn nachher artgerecht zu entsorgen. Als der Eismann ein zweites Mal das Haus betritt, liegt der Zweijahresvorrat Rehragout außerhalb der Truhe aufgehäuft, das Innere der Truhe aber birgt eine Überraschung.
Der Amerikaner John Wray, Favorit des ersten Lesetages, errang den neu gegründeten Deutschlandfunk-Preis. Seine Erzählung „Madrigal“ handelt von einer Bruder-Schwester-Beziehung, worin der Bruder Teddy als erfolgreicher, doch unzufriedener Schreiber und die Schwester Maddy als eine Autorin mit Schreibblockade auftritt. In Gedanken entwickelt Maddy eine Welt, die der Ihren aufs genaueste gleicht, beinahe mit ihr identisch ist. Die musikalisch durchkomponierte Form (Madrigal heißt die Figur, die Maddy imaginiert) verbindet Anfang und Ende gleich  einer Möbiusschleife: Die  telefonierende Erzählerin erfindet Figuren, die zu Erzählern neuer Figuren werden, die schließlich den mit der Schwester telefonierenden Bruder erfinden, der in Gedanken der Schwester ein unbeschriebenes Blatt in die Schreibmaschine einzieht. Dann folgt noch einmal der fürsorgliche Telefon-Dialog vom Anfang mit irritierenden, winzigen Abweichungen.
Eckhart Nickels erster Satz „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht“ wurde schon zuvor inoffiziell als bester Anfangssatz des Wettbewerbs nominiert. Nickel wurde der KELAG-Preis zugesprochen. In seiner Erzählung „Hysteria“ bemerkt ein älterer Mann, Bergheim, dass mit den Früchten irgendetwas nicht stimmt. Sie sind zu reif, haben die falsche Farbe und scheinen von böse wucherndem Schimmel überzogen. Merkten denn die anderen Marktbesucher nichts? Nun, denken wir, dies wird ein Paranoiker sein. Aber wir befinden uns in einer nicht allzu fern gedachten ökologisch-erneuerbaren Zukunft. Für die Versorgung ist eine stadtnahe  „Kooperative“ verantwortlich, die Bergheim aufsucht, um dies mit den Himbeeren zur Sprache zu bringen. Die freundliche Aufnahme durch die Gärtnerin Frau Asche und den Lebensmittelchemiker Dr. Haupt kann den Besucher aber nicht beruhigen. Verschwörungstheoretiker und Elektro-Smog-Geschädigte wie Bergheim steigern sich lieber nach einer kurzen Vision der Anfangsszene des Films Odyssee 2001 wieder in die Hysterie hinein. Denn als der Besucher sich die Hände waschen will, sind diese so durchsichtig und weiß – und er müsste eigentlich wie der Leser dieser Erzählung ahnen, dass all die süßen veganen Früchte aus Tieren lebensmittelchemisch veredelt wurden.  

Die in den vorausgehenden Abstimmungen bereits mehrfach mitnominierte Schweizerin Gianna Molinari erhielt den 3Sat-Preis mit ihrer Novelle „Loses Mappe“. Die sehr ruhig erzählte Geschichte vom Wachmann Lose, der seiner Kollegin vom Wachdienst eine Mappe anvertraut, ist – was man im Fernsehen nicht sieht und im Rundfunk nicht hört – bebildert mit Zeitungsberichten und Fotos von einem vom Himmel gefallenen Menschen. Nachtwächter Lose, der seiner unmittelbaren Wahrnehmung nicht traut, wird im Nachhinein zum Archäologen dieses Ereignisses: eines aus dem Fahrwerk eines landenden Flugzeugs gestürzten Flüchtlings. Die Collage gesammelter Spuren der Tragödie erlaubt jedoch nur eine tentative Annäherung an die Wahrheit. Schließlich öffnet sich die Erzählung der allgemeinsten Perspektive der Vanitas: Auch vom Leben der Mitmenschen „mit Biographie“ bleibt zuletzt nicht mehr als der Bindestrich zwischen zwei Jahreszahlen auf dem Grabstein.

Den Publikumspreis gewann völlig überraschend die nicht auf die Shortlist gelangte Karin Peschka mit ihrer Erzählung vom „Wiener Kindl“. In einem durch Krieg völlig zerstörten Wien (nicht Homs oder Aleppo) überlebt wie durch ein Wunder ein noch nicht sprachmächtiges kleines Kind, das sich mit den im Rudel lebenden Hunden aus der Nachbarschaft anfreundet und deren Alpha-Tier wird. Mit silbernem Löffel regiert es die neuen Freunde. Eine schlicht erzählte, in sich stimmige Geschichte, die wohl die Beschützerinstinkte der zahlreichen im Internet votierenden Leser geweckt hat. Für die Autorin kam die Nominierung völlig überraschend – kurz nachdem sie sich ins Notizbuch geschrieben hatte: „leer ausgegangen“.

Drei Themenkreise beherrschten dieses Jahr (heuer, wie die Österreicher sagen) die Lesungen, dies aber in einer durch Unaufdringlichkeit eingängigen Weise. Zum einen die globalen Flüchtlingsströme (Maxi Obexer, Jackie Thomae, Gianna Molinari), die Unbehaustheit des Menschen in Zeiten der Globalisierung (Jörg-Uwe Albig, Eckhart Nickel) und Endzeiterwartung (Karin Peschka, Noemi Schneider). Jörg-Uwe Albig („In der Steppe“) etwa zeigt eine von Landflucht verödete Landschaft im deutschen Osten, in der ein Mitarbeiter des Stadtmuseums Zinnroda auf der Suche nach Artefakten der Vergangenheit auf eine weiße Betonkapelle in der „Zone“ stößt, von der er magisch angezogen wird und eine mystische Vereinigung erwartet. Tatsächlich aber wird ein Sprengtrupp auch dieses Gebäude der Steppe anverwandeln und somit die letzten Symbole einer transzendenten Verankerung des Menschen beseitigen. Neben diesen miteinander korrespondierenden Menschheitspanoramen wurde aber auch die Kunst selbst, das Schreiben zum Gegenstand der Reflexion, so bei Daniel Goetsch und vor allem bei John Wray mit seiner genialen textuellen Übersetzung der „Drawing hands“ (M.C.Escher).

Am Sonntag, den 9. Juli 2017 wurden die Preisträger des Bachmannpreis-Wettbewerb von der Jury bestimmt. Wir - Studierende des Seminars "Literaturkritik" im Sommersemester 2017, die mit dem Dozenten nach Klagenfurt anreisten - haben unsere eigene Abstimmung am Samstag, nach dem Ende der Lesungen vorgenommen. Unser Votum: Bachmannpreis: Ferdinand Schmalz („Mein Lieblingstier heißt Winter“); Platz 2: John Wray („Madrigal“); Platz 3: Jackie Thomae („Cleanster“); Platz 4: Gianna Molinari  („Loses Mappe“)

 

K. Buch, P. Demuth, V. Groeger, L. Hülsmann, N. Kottmann, E. Müller, T. Page, L. Rudolph, J. Yigit und apl. Prof. Ulrich Seelbach

Texte und Videos zum Bachmannpreis unter http://bachmannpreis.orf.at/


Bachmannpreis (41. Tage der deutschsprachigen Literatur)

Bielefelder Studierende in Klagenfurt

Congratulatins for author John Wray
Foto Ulrich Seelbach

Der erste Lesetag stand unter dem Zeichen der Apokalypse. Karin Peschkas dystopische Geschichte „Wiener Kindl“ über ein Kind als einziger Überlebender im zerstörten Wien schreibe – so die Jury - die Tradition der Apokalypse in einer gerade durch seine emblematische Verkürzung besonders stimmigen Form fort.

Der Titel von Noemi Schneiders Text „Fifty Shades of Gray“ spielt nicht allein auf den Aufregerroman einer gelangweilten westlichen Gesellschaft an, sondern auch auf das von ihr Verdrängte: Gray ist die Maßeinheit für Strahlendosen und das strukturierende „Cool gray“ ist eine reale Farbe, die in besonders vielen Schattierungen existiert: abnehmendes Licht bedeutet näherrückende Apokalypse. Geschildert wird die Flucht der dekadenten Europa-Haute volee fort von ihrem untergehenden Kontinent, die aber auch diese Bewegung nur als kostspieliges Event wahrzunehmen weiß.

Der Favorit des Tages: John Wray. Die Geschichte „Madrigal“ über eine Bruder-Schwester-Beziehung überzeugte durch die musikalisch durchkomponierte Form, die gleich einer Möbiusschleife (oder M.C. Eschers „Schreibenden Hände“) Anfang und Ende gleichsam perpetuierend miteinander verband. Die mit ihrem Bruder telefonierende Erzählerin erfindet Figuren, die zu Erzählern neuer Figuren werden und am Ende den Anfang neu erfinden. Die Jury: Großes episches Handwerk.

Thematisch unentschlossen und stilistisch unvollendet blieb die Geschichte „Weintrieb“ des jüngsten Teilnehmers am Wettbewerb Björn Treber, die das Begräbnis eines Großvaters aus der Ich-Perspektive des Enkels detailliert-distanziert und mit innerem Abscheu vor der Inszenierung beschreibt.

Daniel Goetschs  „Der Name“ ist vordergründig eine Zeitzeugengeschichte über Selbstvergewisserung und Scheinidentität, die Handlung spielt im Mainz der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der Gegenwart, die einen jetzt alten Mann mit einem Autor zusammenbringt, der händeringend um einen neuen Stoff zum Erzählen ringt. Der Name wird zur Chiffre für das nicht mehr Rekonstruierbare, das verborgen Bleibende im Andern.

Texte und Videos unter bachmannpreis.orf.at

Author Matthias Schweiger AK Ferdinand Schmalz at Bachmannpreis 2017
Foto Ulrich Seelbach

Ferdinand Schmalz (geboren als Matthias Schweiger), erfolgreicher Bühnenautor aus Wien, fügt mit „Mein Lieblingstier heißt Winter“ dem für die österreichische Moderne typischen morbiden Humor des Durchdeklinierens  von Todesphantasien eine besonders skurrile Variante hinzu. Dr. Schauer, der seinem Krebstod zuvorkommen will, beauftragt den Eismann namens Schlicht, nach selbst herbeigeführtem Kältetod seine Leiche aus der Tiefkühltruhe zu holen und artgerecht zu entsorgen. Auch stilistisch an österreichischen Vorbildern orientiert, entwickelt der Text seinen kalauernden Progress an sprachlichen Setzungen entlang. Unser Favorit des zweiten Tages.

Das große Thema von Jörg-Uwe Albig („In der Steppe“) ist der Verlust der transzendentalen Behaustheit des Menschen. Auf den postkulturellen Trümmern aufklärerischer Fortschritts- und Autarkie-Phantasien sucht der einsame Protagonist bei einer Kapelle in der Wildnis Zuflucht und Beantwortung seiner spirituellen Leidenschaft. Doch die Kapelle ist nur noch ein Gebäude, die Heimkehr in den älteren christlichen Kosmos will nicht gelingen. Michel Houellebecqs Rocamadour-Episode lässt grüßen.

Der Clash of civilisations kommt in Jackie Thomaes „Cleanster“ mit souveräner Leichtigkeit einher: Gehobene Mittelstands-Emanzipierte beschäftigt Putzmann mit Migrationshintergrund. Hinter der formelhaften Fassade der political correctness werden schnell und präzise Herablassung, Bigotterie und schlechtes Gewissen der Inhäusigen, in der Willkommenspose die Übergriffigkeit sichtbar. Dagegen öffnet sich  ein Abgrund von Deplatziertheits- und Selbstentwertungsempfindungen bei den „Willkommengeheißenen“.

Die nächste Variation auf das Leitthema „Behaustheit“ bietet „Die Mieter“ von Barbi Markovic. Die Wohnung als Sedimentationsraum vom Erfahrenem, von gelebten Bräuchen und Riten, wird hier Schritt für Schritt zum lenkenden, ihre Bewohner verschlingenden Subjekt – Heim wird unheimlich. In diesen Mauern der Sozialisation zu bleiben, bedeutet den Untergang, die Flucht daraus aber eine Existenz als entwurzelter Rettich.

Im Zentrum von Verena Dürrs Text „ Memorabilia“ stehen die zwei Klaviere aus dem Film „Casablanca“, vergegenständlichte Erinnerung  an eine unerfüllte Liebesgeschichte und Instrumente ihrer immer neuen musikalischen Abrufbarkeit. Doch das Motiv der Sammlerin, die gleich beide Instrumente erwirbt, ist so ambivalent wie das ganze Setting des Freizolllagers, in welchem kulturgeschichtliche Artefakte wie diese wie in einem Schrein aufbewahrt werden: „As time goes by“, einst filmisches Liebeslied und Symbol der eigenen verlorenen Liebe der Sammlerin, wird nun zur Formel für den marktwirtschaftlichen Wertzuwachs der Gegenstände.

 

Texte und Videos unter bachmannpreis.orf.at

Bachmannpreis (41. Tage der deutschsprachigen Literatur)

Bielefelder Studierende in Klagenfurt

Authors Maxi Obexer and Verena Dürr, Juror Klaus Kastberger (from the rear)
Foto Ulrich Seelbach

In Eckart Nickels „Hysteria“ wird ein Gang über den Markt zum Horrortrip. Unter dem mikroskopischen Blick des  pathologisch sensiblen Protagonisten mutiert die Szene zu einem bedrohlichen Arrangement feindseliger Entitäten von spinnenköpfigen Himbeeren bis zu wilden Augenbrauen-Hecken.  Aber sind die Mitglieder der sog. „Kooperative“, die ihn freundlich-therapeutisch an die Hand nehmen und mit ihrem Bio-Projekt einer künstlichen Erschaffung der ursprünglichen Welt vertraut machen, wirklich Retter? Dem Topos aus dem 19. Jh. von der Idylle, der eine Apokalypse eingeschrieben ist, wird hier eine hyperrealistische Form gegeben.

“Loses Mappe“ von Gianna Molinari – unsere Favoritin des Tages – findet einen gangbaren Weg, die Flüchtlingsthematik zu gestalten, im Erzählen von einem “unerhörten Ereignis”: ein Mensch fällt vom Himmel. Nachtwächter Lose, der seiner unmittelbaren Wahrnehmung nicht traut, wird im Nachhinein zum Archäologen dieses Ereignisses. Die Collage gesammelter Spuren der Tragödie erlaubt jedoch nur eine tentative Annäherung an die Wahrheit. Schließlich öffnet sich die singuläre Geschichte des aus dem Fahrwerk eines Flugzeugs gestürzten Flüchtlings aber der allgemeinsten Perspektive der Vanitas: Auch vom Leben der Menschen „mit Biographie“ bleibt zuletzt nicht mehr als ein Bindestrich zwischen zwei Jahreszahlen.

„Europas längster Sommer“  von  Maxi Obexer ist eine Geschichte des Zur-Sprache-Kommens. Aus der Perspektive einer Südtirolerin wird eine gemäßigt hegemonielle Variante des Integrationsthemas geboten, in leichtem Plauderton einherkommend, jedoch nicht ohne die Tendenz zur Moralisierung aus der Perspektive linksliberaler Ressentiments, vor allem mit Seitenblick auf die Immigranten zweiter Klasse. Gleichwohl liefert der Text präzise Beobachtungen der deutschen Double-bind-Situation zwischen Willkommensgeste und Abgrenzungsverhaltens.

Mit „Ein Bier im Banja“ führte Urs Mannhart die Hörer in die kirgisische Steppe auf die Wolfsjagd – eine für die Nomaden-Gemeinschaft existentielle Praxis. Die reduktionistische, fast asketische Darstellung gleicht auf weite Strecken einer mitgehenden Kamera, die die Vorgänge 1:1 abbildet und sich den hermeneutischen Sinnstiftungsübungen westlicher Kulturen verweigert. Die harte Welt der Männer hält an den Traditionen fest, während die Frauen schon längst in einer anderen Welt, in der Sesshaftigkeit der Städte, angekommen sind.

Texte und Videos unter bachmannpreis.orf.at


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