Mit dem Terrorangriff der Hamas am 7.10.2023 auf Israel hat auch in der Bundesrepublik Deutschland der Nahostkonflikt junge Menschen und Bildungseinrichtungen erreicht. Einerseits haben die Polarisierungen um pro- und anti-israelische Positionen insbesondere in Bildungseinrichtungen zugenommen, andererseits haben antisemitische Angriffe stattgefunden und es wurde deutlich, wie fragil der Schutz der Bildung vor Antisemitismus ist. Zugleich mussten wissenschaftlich zentrale Fragen der Öffentlichkeit wie nach dem Handlungsbedarf offen bleiben: Sind junge Menschen, gar ihre Sozialisationsagent:innen – Lehrer:innen und Schulsozialarbeiter:innen, die gerade in Krisen helfen und Prävention betreiben müssen, anfällig für Antisemitismus? Wie stark, warum und wo treten welche Formen des Antisemitismus auf? Welche Effekte entstehen dadurch für jüdische Jugendliche, welche Bedarfe, Herausforderungen und Handlungsoptionen sehen jüdische Lehrer:innen und Sozialarbeiter:innen mit Blick auf die Jugendlichen und die Institution Schule?
Trotz der gesellschaftlichen Diskussionen zum Ausmaß, zur Verbreitung und zu gezielten Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten gegen die unterschiedlichen Formen des Antisemitismus bei Jugendlichen und im Sozialraum Schule liegen bislang kaum verlässliche Fakten und hinreichend auswertbare Daten vor. Die geplante Studie schließt diese Lücke, indem sie auf der Grundlage eines Mixed-Methods-Designs qualitative und quantitative Daten zum Antisemitismus generiert und dabei insbesondere die mögliche Differenz von jüdischen und nicht-jüdischen Erfahrungen und Perspektiven beachtet. Dabei zielen die Forschungsfragen darauf ab, das Wissen, die Bedarfe und Empfehlungen von jüdischen und nicht-jüdischen Jugendlichen, Lehrer:innen und (für die Bekämpfung von Antisemitismus relevante) Sozialarbeiter:innen zu erheben, um vergleichend und kontrastierend ein erfolgreiches Benennen, Erkennen und Handeln gegen und über Antisemitismus im Schulkontext identifizieren zu können
Die Studie ist über einen Gesamtverlauf von drei Jahren mit Transfer von Zwischenbefunden geplant. Ziel ist es, eine bestmögliche Datenqualität in diesem aus vielfachen Gründen nicht ganz einfachen Feld zu erhalten. Das Projekt entwickelt damit auch zuverlässige Messinstrumente für Langzeitstudien und es schafft Grundlagen für eine faktenbasierte Bildung gegen Antisemitismus unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen von Menschen, die von Antisemitismus bedroht werden.
Leitziel des vorgeschlagenen Projekts ist es, ein methodisches Design, zuverlässige Messinstrumente und Daten für empirisch basiertes Wissen über Antisemitismus im Kontext der Sozialisationsinstanz Schule zu generieren und zur Verfügung zu stellen. Dies soll eine forschungsbasierte Aufklärung und wissenschaftlich fundierte Hilfestellung über das komplexe und hoch emotionale, zugleich auch instrumentalisierte Thema „Antisemitismus in der Gesellschaft und besonders im Sozialisationsbereich Schule“ bieten – für Entscheidungsträger, Lehrkräfte, Jugendarbeit und nicht zuletzt für junge Menschen selbst. Es geht darum, die Erfahrungen und Identitäten, Einstellungs- sowie Deutungs- und (professionellen) Handlungsmuster der zentralen Akteure in Schulen zu erforschen. Dazu zählen Jugendlichen, Lehrkräfte und Schul- und Jugendsozialarbeiter:innen. Um Antisemitismus angemessen zu begegnen, wird der Einfluss von psychologischen, sozialen und ideologischen Faktoren und von Lebens- und Sozialisationskontexten erforscht.
Der Schulkontext ist für das Thema Antisemitismus in mehrfacher Hinsicht ein besonders relevanter Kontext, auch wenn und weil er nicht getrennt von anderen Lebenskontexten ist: Schule ist ein zentraler Sozialisationsort für junge Menschen, in dem sie Wissen und Deutungsmuster erwerben und austauschen, Erfahrungen machen und weitergeben. Ebenso ist der Ort Schule für die Demokratiebildung und Prävention gegen Antisemitismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit zentral. Der Schule kommt eine besondere gesellschaftliche Bildungs- und Erziehungsaufgabe und Verantwortung für den Umgang mit Antisemitismus zu. Zugleich gibt es hier viel Unwissen, Unsicherheiten und Konflikte rund um das Thema (Bernstein 2020). Für den Schulkontext werden in der geplanten Studie die Erfahrungen, Sichtweisen, Deutungsmuster und Bedarfe jüdischer und nicht-jüdischer Jugendlicher, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen quantitativ und qualitativ erhoben. Diese zentralen Akteure sind gefragt und herausgefordert, pädagogisch mit dem Thema umzugehen, Wissen bereitzustellen, einzuordnen, auch Konflikte zu moderieren und Prävention zu leisten.
Im Projektzeitraum wird genauer untersucht, welches Wissen, welche Bilder und Erzählungen jüdische und nicht-jüdische Jugendliche vom Judentum, Juden und Jüdinnen, Israel und dem Nahost-Konflikt haben und teilen, wie verbreitet antisemitische Einstellungen sind, wie sie erfahren und bearbeitet werden und wie beides zusammenhängt (Tab. 1). Ein besonderer Fokus wird auf den Bedarfen und Handlungsmöglichkeiten von Jugendlichen bei den Themen „Nahost-Konflikt“ und „israelbezogener Antisemitismus“ liegen. Analysiert werden sog. Personen- und Umweltfaktoren, die einen Einfluss auf die Anfälligkeit für Antisemitismus und auf die Reduktion antisemitischer Einstellungen, Affekte und Handlungen haben, wie z. B. Bildungs- und Diskriminierungserfahrungen, Schulkultur, Bezugspersonen/-gruppen, Social Media, die gesellschaftspolitische Werthaltung oder wahrgenommene soziale Normen. Es soll nicht darum gehen, allein Defizite festzustellen und die Problemdynamik eines „Fingerzeigens“ zu befördern. Vielmehr geht es dem Projekt darum, aus einem besseren Verstehen Bedarfe und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren. Auch dazu wird das Wissen der befragten Akteure ermittelt und zugänglich gemacht.
Parallel zu den Jugendlichen werden jüdische und nicht-jüdische Lehrkräfte untersucht, um beide interpretativ in Beziehung miteinander setzen zu können. Es macht aus unserer Sicht allenfalls eingeschränkt Sinn, nur Jugendliche zu befragen und daraus dann Empfehlungen abzugeben. Einerseits ist Antisemitismus ein geteiltes relationales Phänomen. Andererseits sind Lehrkräfte insbesondere diejenigen, die die Empfehlungen umsetzen. Ihre (pädagogischen) Erfahrungen, Einschätzungen und Sichtweisen sind zentral, wenn es um Bedarfe im Veränderungs- und Handlungswissen gegen Antisemitismus geht.
Zudem werden jüdische und nicht-jüdische Sozialarbeiter:innen als wichtige dritte Akteursgruppe einbezogen. Im Kontext sowohl der Schule als auch der außerschulischen Jugendarbeit (z. B. als durch die Schule angefragte Bildungsreferent:innen) fällt den Schul- bzw. Jugendsozialarbeiter:innen in der Regel die zentrale Rolle zu, Antisemitismus und damit verbundene Konflikte und Diskriminierungen zu bearbeiten. Lehrkräfte haben, so die Beobachtung, dazu in der Regel weder die Zeit noch sind und fühlen sie sich kompetent, das Thema Antisemitismus intensiver und vertiefter mit den Schüler:innen zu besprechen und zu reflektieren.