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Repertorium der Schreibsprachen im Spätmittelalter

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Repertorium der Schreibsprachen im Spätmittelalter

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Schreibsprachen entstehen aus dem lokal verschriftlichten Dialekt und fremden, übernommenen Schreibweisen. Diese können Einflüsse von Kanzleien der Bistümer, der Landesherrschaften oder regional/überregional einflussreicher Städte sein (man denke an die Rolle Magdeburgs als Obergericht zahlreicher ostdeutscher Städte). Schreibsprachen einzelner Städte oder fürstlicher, bischöflicher Kanzleien lassen sich aufgrund eines gesicherten, an einem Ortspunkt geschriebenen Textkorpus auf unterschiedliche Weise beschreiben. Anders sieht es aus, wenn wir uns mit der Schreibsprachenbestimmung von mittelalterlichen Buch-Handschriften beschäftigen, die ja in der Regel keine Angabe des Schreibers enthalten, an welchem Ort und für wen der Text oder aus welcher Vorlage er abgeschrieben wurde. Die linguistische Auswertung schreibsprachlicher Merkmale spätmittelalterlicher Texte ist derzeit nur sprachhistorisch versierten Linguisten und Handschriften-Beschreibern mit einschlägiger Erfahrung möglich – und sie ist hochgradig aufwendig.

Ca. 90 % der spätmittelalterlichen volkssprachigen Überlieferung besteht aus nicht lokalisierten Manuskripten. In Handschriftenkatalogen, die nach den Richtlinien der Handschriftenkatalogisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erarbeitet wurden, soll auch die „Mundart bei deutschsprachigen Handschriften“ (Richtlinien 1992: 11) angegeben werden. Seit den späteren 1990er Jahren wird auch bei der DFG der Terminus „Schreibsprache“ verwendet. Eine Einordnung der Schreibsprache mithilfe der historischen Grammatiken erbringt meist nur eine großräumige Zuordnung zu den historischen Schreibdialekten. Etwas genauere, mitunter lokale Schreibsprachenbestimmungen sind für einige Regionen mithilfe der Frühneuhochdeutschen Grammatik von Virgil Moser möglich. Eine formularunterstützte Auswertung von beliebigen Texten der Literatur, der Religion, des Rechts und der Wissensvermittlung in der Volkssprache, die bislang nicht eingehender lokalisierbar waren, würde es auch Handschriftenbeschreibern, die keine germanistischen Mediävisten sind, Historikern, Rechtshistorikern, Philosophen und Theologen, ja selbst Laien ermöglichen, die sie interessierenden Texte exakter zu verorten.


Schreibsprachenbestimmung

Die wenigsten Handschriften des Mittelalters sind von ihren Schreibern mit den Angaben ausgestattet worden, die Mediävisten (als Hintergrundinformationen) gerne wüssten:

  • wann wurde die Handschrift geschrieben?
  • von wem?
  • für wen?
  • an welchem Ort?

Eine Handschrift ist in der Regel nicht datiert, nicht signiert, nennt den Auftraggeber (Besteller des Textes) nicht und verschweigt den Ort der Entstehung. Die Frage der Zeit kann mit der Paläographie (unsicher) oder der Bestimmung der Wasserzeichen (ziemlich sicher) beantwortet werden. An welchem Ort sie entstand, lässt sich mithilfe der Schreibsprachenbestimmung nach Sortierung gewisser typischer Merkmale (unsicher) oder mithilfe von Schreibsprachen-Atlanten (ziemlich sicher) klären. Doch gibt es zur Zeit nur zwei verlässliche historische Schreibsprachen-Atlanten, ein weiterer ist für das Gebiet des Ostniederdeutschen Raumes versprochen:

  • HSS: Wolfgang Kleiber, Konrad Kunze, Heinrich Löffler (Hrsg.): Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas aufgrund von Urbaren des 13. bis 15. Jahrhunderts. 2 Bde. Bern, München 1979.
  • ASnA: Robert Peters u.a.: Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete. 3 Teilbde. Berlin: de Gruyter 2017 (der Kommentarband steht noch aus).
  • ASoR: Irmtraud Rösler/Ingmar ten Venne: Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des ostniederdeutschen Raumes. (Projekt ruht)

Der HSS z.B. erlaubt es, nicht lokalisierte alemannische Handschriften aufgrund der schreibsprachlichen Merkmale (Merkmalbündel) kleinräumig zu verorten. Beispiel: Eine bisher nur grob ins Niederalemannische einzuordnende Hs. ist mit den Merkmalen von 5-6 Karten auf eine Herkunft aus Marbach oder Colmar im Elsass festlegbar. Auf andere Orte (bzw. deren Umland) trifft die Kombination von Merkmalen nicht zu (Leipzig UB, Ms 1659: Nikolaus von Basel, Heinrich von Löwen, Rulman Merswin, Johannes Tauler). Der AsnA funktioniert ebenso, bietet jedoch zusätzlich zeitliche Querschnitte auf seinen Karten. Beispiel: Eine bisher nur als Mittelniederdeutsch (Westfälisch) bestimmte Handschrift kann aufgrund des Merkmalbündels auf den Raum Marsberg/Höxter in das 3. V. 15. Jh.s verortet werden (Gießener UB, Hs 969a: Arnsberger Reformation). [Beide Beispiele sind der Schreibsprachenbestimmung für die Projekte: Repertorium der mittelalterlichen Autoritäten und Katalog der deutschsprachigen Handschriften der UB Gießen entnommen.]

Für die anderen Gebiete (Hochalemannisch der Schweiz, Bairisch, West- und Ostmitteldeutsch, Ostfränkisch etc.) gibt es noch keine historischen Sprachatlanten. Sie müssten sich wie die oben genannten Werke auf verlässlich vor Ort niedergeschriebene, datierte Textsorten (Urbare, städtische Urkunden, Stadtbücher, Stadtrechte) stützen. Ein nützliches Literaturverzeichnis zu den Schreibsprachen des Mittelalters, Tabellen zur Nutzung des HSS und Karten enthält die Seite von Brigitte Pfeil: Historische Schreibsprachen. Mit der Zeit sollen sehr ausführliche und genaue Tabellen ergänzt werden, die bisher v.a. zum Südwestdeutschen Raum des HSS und zum Thüringischen schon nutzbar sind. Für die rasche Orientierung helfen sie jedoch kaum (vgl. jedoch die Tabelle von Robert Peters zu den Karten bei Werner Besch: Sprachlandschaft und Sprachausgleich, 1967).

Mitunter könnte es schon hinreichen, die Schreibsprache einer Handschrift wenigstens pauschal zu bestimmen. Hierzu ist ein Merkmalbündel (aus wenigen Hauptmerkmalen) hilfreich, oder auch ein Alleinstellungsmerkmal wie das ripuarische "inde" für "und", oder das Dehnungs-i (hait, rait, doin) für das Westmitteldeutsche. Wir haben in dem Projektseminar "Varietäten im Frühneuhochdeutschen" versucht, ausgesuchte Urkunden (möglichst aus der Zeit um 1450) auf ihre häufigsten Abweichungen vom Normalmittelhochdeutschen (Lexer-Standard und Paul/Schröbler/Wiehl/Grosse) hin zu befragen. Die Schreibsprachen-Untersuchung dieser Urkunden verzeichnete nicht alle Erscheinungen (vgl. jedoch als Ersatz hierfür die "Leitformen"), sondern nur die auffälligsten Abweichungen von der Norm. In einem weiteren Filterprozess haben wir die Merkmal-Verzeichnisse nochmals eingekürzt. Für jede der untersuchten Schreibsprachen wurden Urkunden einer Stadt gewählt, die möglichst nahe dem Zentrum des Sprachgebietes lagen, für die sie Aussagen erbringen sollten. Nachdem wir im Sommersemester vor allem die spätmittelalterlichen Schreibsprachenmerkmale im Süddeutschen Raum anhand von Urkunden aus der Zeit um 1450 zusammengetragen haben, ging es in der Fortsetzung im Wintersemester um die Vervollständigung eines Überblicks zu den geschriebenen Dialekten im hochdeutschen Raum, vor allem im Westmitteldeutschen und thüringisch-sächsischen Gebiet. Zum Abschluß des Seminars wurden die wichtigsten Kriterien für die Zuordnung von Texten zu den hochdt. Dialektgebieten des 15. Jhs. zusammengetragen und in einem Merkmalkatalog beschrieben (er ist auf dieser Seite in überarbeiteter Form eingestellt). Welche Urkunden wir verwendet haben, ist der Unterseite "Verzeichnis der Urkunden" zu entnehmen. Die zugrundeliegenden Urkundenwerken sind unter "Quellenwerke" aufgeführt.
Unsere Merkmalkataloge für die Schreibsprachen (vgl. die neuen Bezeichnungen, z.B. "Südalemannisch" statt "Hochalemannisch", nach den Richtlinien der DFG-Handschriften-Bearbeiter: Probleme der Katalogisierung deutschsprachiger Handschriften [pdf], hier das Protokoll zur Schreibsprachenbestimmung) erheben nicht den Anspruch, eine generelle Aussage für das ganze Gebiet der jeweiligen Schreibsprache zu treffen, dafür ist die Textbasis zu schmal. Mit den Hauptmerkmalen unserer Urkunden jedoch könnten erste Vermutungen aufgestellt werden für bisher schreibsprachlich nicht bestimmte Handschriften. Die anschließende Überprüfung (am zuverlässigsten anhand der frühneuhochdeutschen Grammatik von Virgil Moser) muss sich anschließen.

Vielleicht möchte man aber auch eine bereits aufgestellte Vermutung absichern. Hierzu hilft der lebendige Eindruck eines Urkundentextes mitunter mehr als eine abstrakte Aufzählung linguistischer Variablen. Den raschen Zugang zu geeigneten Urkundentexten bietet das Verzeichnis der von uns ausgewählten Urkunden und natürlich der Quelleneditionen, denen sie entnommen wurden. Das Verzeichnis der Leitformen (diese sind nicht den üblichen Nachschlagewerken entnommen, sondern systematisch aus den Quellen zusammengetragen) ist ein Weg, über großräumige Merkmaldistinktionen gezielt zu den Schreibsprachen zu gelangen, die überhaupt in Frage kommen. Es setzt den lemmatisierten Bereich unseres Merkmalkatalogs fort und bietet zu Einzelwörter Variablen der Schreibsprachen. Kriterium der Aufnahme in diese Liste war a) häufiges Auftreten in Urkunden und b) Signifikanz bei der schreibsprachlichen Unterscheidung von Großräumen.

Alle Angaben aus dem Merkmalkatalog sind in dem Verzeichnis der Merkmale zu finden, geordnet nach Erscheinungen des Vokalismus, Konsonantismus und nach Kennwörtern (Wortvariablen).


Ulrich Seelbach, Jörn Wehmeier (Letzte Änderungen 8.9.2021, U.S.)


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