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  • Forschung

    © Markus Richter / Fakultät für Soziologie

Lehre


Lehrprofil

Die Aufgabe der Soziologie ist die Erforschung der sozialen Wirklichkeit. Während die empirische Forschung einzelne Gegenstandsbereiche mehr oder weniger konkret und gegenstandsnah untersucht, ist es die Aufgabe der Theoriebildung, große Zusammenhänge und Entwicklungslinien aufzudecken und damit die Grundstrukturen der Gesellschaft und anderer sozialer Ordnungen durchschaubar zu machen. Dies geschieht mit Hilfe möglichst guter, d.h. klarer, stringenter, widerspruchsfreier, aber auch praktikabler und in der Anwendung auf soziale Realität ergiebiger Begriffe und Theorien. Diese werden laufend entwickelt, kritisiert und weiterentwickelt; es gibt in der Soziologie keinen abgeschlossenen, ein für alle Mal gültigen Stand der Theoriebildung

Theoriearbeit erfordert den Mut und Willen zu eigenem Denken und zur Auseinandersetzung mit schwierigen Texten - auch schon im Studium. Anders als in der Schule oder in stärker standardisierten Teilen des Studiums geht es hier nicht darum, genau vorgegebene Wissenselemente zur Kenntnis zu nehmen und wiederzugeben oder festgelegte Schemata (Formeln, Handlungsrezepte usw.) auf immer neue Fälle anzuwenden. Vielmehr geht es darum, im Rahmen eines komplexen begrifflichen Gerüsts selbst denken zu lernen, Zusammenhänge durchdringen zu können, Sachverhalte mit größtmöglicher Klarheit zu beschreiben und zu analysieren, begriffliche Probleme und Widersprüche zu erkennen, usw. Theoriearbeit ist ein intellektuelles Abenteuer, geeignet für StudentInnen, die mit ambivalenten, unsicheren, wenig strukturierten Lagen zurechtkommen und eine nicht-standardisierte, nicht-schulmäßige Art des Studiums bevorzugen.

Soziologische Theorie beschäftigt sich mit sozialen Ordnungen auf verschiedenen Größenordnungen. Auf der "größten" Ebene liegt die Gesellschaftstheorie, die danach fragt, wie die Gesellschaft aufgebaut ist, was ihre zentralen Strukturen und Reibungspunkte sind. Beispiele für solche Fragen sind etwa: Leben wir in der deutschen (österreichischen, französischen usw.) Gesellschaft oder aber in einer Weltgesellschaft? Ist die kapitalistische Wirtschaft der Kern und die "Basis" der Gesellschaft, oder besteht das Problem der modernen Gesellschaft darin, dass sie viele mehr oder weniger gleichberechtigte Bereiche nebeneinander enthält (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Bildung, Familien usw.), die sich jeder für sich optimieren und keine gemeinsame Sprache sprechen? Ist die moderne Gesellschaft wesentlich eine Klassen- oder Schichtgesellschaft, die ohne die Oben/Unten-Differenz nicht existieren könnte, oder sind Schichtdifferenzen nur noch "lästige", nicht loszuwerdende, aber auch nicht mehr notwendige und deshalb durchwegs kritisierte Strukturelemente? Sind religiös-kulturelle Überzeugungen generell auf dem Rückmarsch, ist im Zuge von Globalisierungsprozessen ein Revival solcher Überzeugungen zu verzeichnen, oder gibt es gar eine neue, einflussreiche "säkulare" Religion, die z.B. Demokratie, Menschenrechte, Bildungssysteme nach internationalem Standard zu allgemein angebeteten Objekten erhebt und ganze Staaten dazu bringt, sich gemäß diesen Zielen umzustrukturieren?

Außer mit der Gesellschaft beschäftigt sich die soziologische Theorie aber auch mit "kleineren" sozialen Ordnungen, etwa mit Organisationen und face-to-face-Interaktionen. Hier können Fragen gestellt werden wie: Sind Organisationen zweckorientierte, rationale und kühl kalkulierende Akteure, oder sind sie träge, änderungsunwillige und zu rationaler Entscheidung unfähige Gebilde, die sich "durchwursteln" und mit den Erfolgsrezepten von gestern die Probleme von heute zu lösen versuchen? Ist die Interaktion unter Anwesenden vor allem eine Gelegenheit, der eigenen Identität authentischen Ausdruck zu verschaffen, oder ist sie eher eine Art Bühne, die uns zur Selbstdarstellung, Imitation und Verstellung zwingt?

Auf all diese Fragen gibt es mehr als eine Antwort. Die Soziologie ist eine theoriepluralistische Wissenschaft, d.h. es gibt nicht eine Theorie, sondern viele, teils miteinander konkurrierende und debattierende Theorien. Dies ermöglicht und erfordert eigene Urteilsbildung und selektive Schwerpunktsetzung. Dies gilt auch für StudentInnen ab einer gewissen, fortgeschrittenen Stufe. Ein theorieorientiertes Studium soll die StudentInnen dazu in die Lage versetzen, sich selbst im Feld soziologischer Theorien zu positionieren, bestimmte theoretische Positionen zu vertreten und andere abzulehnen, und Theorien nicht nur von außen, als kurzfristig und oberflächlich betrachteten Lernstoff zur Kenntnis zu nehmen.

StudentInnen, die an Theoriearbeit in diesem Sinn Interesse haben, finden in Bielefeld optimale Bedingungen vor. Allein der Arbeitsbereich 1: Theoretische Soziologie besteht aus einer größeren Gruppe von ca. 8 SoziologInnen, die in Forschung und Lehre theoretisch anspruchsvolle Soziologie betreiben; zahlreiche weitere Personen in anderen Arbeitsbereichen haben ebenfalls starke theoretische Interessen. Vielfalt und Qualität des Bielefelder Angebots an theoretisch orientierter Lehre sind deshalb im deutschsprachigen Raum einzigartig. Ein Bielefelder Schwerpunkt liegt dabei traditionsgemäß auf der Systemtheorie Niklas Luhmanns, da Luhmann - neben Jürgen Habermas der bedeutendste deutsche Soziologe jüngerer Zeit - jahrzehntelang in Bielefeld gelehrt hat. Weitere Theorierichtungen - etwa: Kritische Theorie, Phänomenologie, Klassen- und Habitustheorie, Neoinstitutionalismus usw. - sind im Lehrangebot des Arbeitsbereiches je nach der Präsenz von Personen vertreten. Theorien können nur bei solchen Personen ernsthaft studiert werden, die auch in ihrer eigenen Forschung mit den entsprechenden Theorien arbeiten und sich in den komplexen Theoriegebäuden gut auskennen. Diese Personabhängigkeit der Theorielehre ist grundsätzlich nicht zu vermeiden - an anderen Universitäten ebensowenig wie in Bielefeld. Gerade angesichts dieser Lage bietet die Bielefelder Fakultät aufgrund ihrer Größe und Vielfalt ideale Bedingungen für StudentInnen, die an einem theorieorientierten Studium Interesse haben.


Lehrbeispiele

Zum Hineinschnuppern: Soziologische Theorie am Beispiel Liebe

Das folgende Beispiel enthält drei Textauszüge von drei sehr verschiedenen Autoren zum Thema „Liebe“, sowie drei Kommentare, in denen die zentralen Aussagen der Texte erläutert und miteinander kontrastiert werden. Wenn Ihnen die Lektüre dieser – teils schwierigen – Texte und die Begegnung mit den grundsätzlichen Theoriedispositionen gefällt, sollten Sie sich für ein Studium entscheiden, in dem eine intensive Beschäftigung mit Theorien Platz hat.

Überall besteht die bürgerliche Gesellschaft auf der Anstrengung des Willens; nur die Liebe soll unwillkürlich sein, reine Unmittelbarkeit des Gefühls. In der Sehnsucht danach, die den Dispens von der Arbeit meint, transzendiert die bürgerliche Idee von Liebe die bürgerliche Gesellschaft. Aber indem sie das Wahre unvermittelt im Falschen aufrichtet, verkehrt sie jenes in dieses. Nicht bloß, daß das reine Gefühl, soweit es im ökonomisch determinierten System noch möglich ist, eben damit gesellschaftlich zum Alibi für die Herrschaft des Interesses wird und eine Humanität bezeugt, die nicht existiert. Sondern die Unwillkürlichkeit von Liebe selber, auch so wie nicht vorweg praktisch eingerichtet ist, trägt zu  jenem Ganzen bei, sobald sie sich als Prinzip etabliert. Soll Liebe in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewußten Widerstand. Der jedoch fordert eben jenes Moment von Willkür, das die Bürger, denen Liebe nie natürlich genug sein kann, ihr verbieten. Lieben heißt fähig sein, die Unmittelbarkeit sich nicht verkümmern zu lassen vom allgegenwärtigen Druck der Vermittlung, von der Ökonomie, und in solcher Treue wird sie vermittelt in sich selber, hartnäckiger Gegendruck. Nur der liebt, der die Kraft hat, an der Liebe festzuhalten. Wenn der gesellschaftliche Vorteil, sublimiert, noch die sexuelle Triebregung vorformt, durch tausend Schattierungen des von der Ordnung Bestätigten bald diesen bald jenen spontan als attraktiv erscheinen läßt, dann widersetzt dem sich die einmal gefaßte Neigung, indem sie ausharrt, wo die Schwerkraft der Gesellschaft, vor aller Intrige, die dann regelmäßig von jener in den Dienst genommen wird, es nicht will. Es ist die Probe aufs Gefühl, ob es übers Gefühl hinausgeht durch Dauer, wäre es auch selbst als Obsession. Jene aber, die, unterm Schein der unreflektierten Spontaneität und stolz auf die vorgebliche Aufrichtigkeit, sich ganz und gar dem überläßt, was sie für die Stimme des Herzens hält, und wegläuft, sobald sie jene Stimme nicht mehr zu vernehmen meint, ist in solcher souveränen Unabhängigkeit gerade das Werkzeug der Gesellschaft. Passiv, ohne es zu wissen, registriert sie die Zahlen, die in der Roulette der Interessen je herauskommen. Indem sie den Geliebten verrät, verrät sie sich selber. Der Befehl zur Treue, den die Gesellschaft erteilt, ist Mittel zur Unfreiheit, aber nur durch Treue vollbringt Freiheit Insubordination gegen den Befehl der Gesellschaft.

(aus: Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt: Suhrkamp 1951, Aphorismus 110: Constanze)

Adorno ist ein Vertreter der Kritischen Theorie, die an Marx und Hegel anschließt und generell ein sehr kritisches, „dunkles“ Bild der modernen Gesellschaft zeichnet. Adorno sieht die Gesellschaft als Totalität, d.h. als Realität, die alles durchdringt, was in der Gesellschaft vorkommt – die Arbeit ebenso wie die Liebe, das Familienleben ebenso wie die Musik. Weiter ist er der Auffassung, dass die Gesellschaft, also das Ganze, falsch ist – ein radikaler Gedanke, der in dieser Radikalität von kaum einer anderen Theorie im Spektrum sozialwissenschaftlicher Theorien geteilt wird (und den meisten heutigen Soziologen als „überholt“, auch als Ergebnis zeitgeschichtlicher Umstände, insbesondere des Erlebens des Holocaust gilt). Falsch ist die Gesellschaft für Adorno deswegen, weil sie dem Anspruch an Humanität, an die Ermöglichung eines echten, unreduzierten Lebens nicht genügt – obwohl sie diesen Anspruch selbst unentwegt verkündet und obwohl sie die objektive Möglichkeit (in Technologie, Produktivität usw.) zu dessen Realisierung hätte. Statt dessen ist sie durch die Kategorien des Tausches und der Herrschaft gekennzeichnet. Mit Herrschaft meint Adorno sowohl Herrschaft von Menschen über Menschen als auch Herrschaft von Menschen über Dinge bzw. über die Natur. Die Kategorie des Tausches übernimmt er von Marx, und laut Adorno ist die Tauschlogik in der Gesellschaft überall präsent – inklusive ihrer Falschheit, die im Kern darin liegt, dass dem Tausch ausgesetzte Dinge ebenso wie der Tauschlogik unterworfene Menschen nicht für sie selbst gelten, dass ein Anderes (ihr Tauschwert, ein Abstraktum) für sie einsteht und sie sich damit von ihrer eigenen Natur entfernen.
Die Liebe ist für Adorno ebenfalls der Tauschlogik und allgemein der Falschheit der Gesellschaft unterworfen. Dies drückt sich in der heutigen Zeit vor allem in der Form des schnellen Beginnens und Beendens von Liebesbeziehungen und des häufigen Wechsels des Liebespartners aus, was dem wechselhaften Glück des Marktgeschehens in der Wirtschaft entspricht. Der Liebespartner wird verdinglicht, die Liebe wird unter dem Imperativ des momentanen Nutzens bzw. Gefallens gestellt und damit ihres eigentlichen Potentials – echte, tiefe, unverfälschte Beziehungen zwischen Menschen zu stiften – beraubt. Eben dies könnte und sollte Liebe sein; es ist jedoch in der falschen Gesellschaft nur möglich im „Widerstand“ und in der Entgegensetzung gegen das, was die normale, verbreitete gesellschaftliche Praxis ist, nicht als „friedliche Enklave“. Ein berühmter Satz von Adorno lautet: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dies gilt auch für die Liebe: In der falschen Gesellschaft ist kein „richtiges“ Praktizieren von Liebe möglich, oder jedenfalls – nach diesem Text – nicht ohne beträchtliche Reflexionsleistung und Widerstand gegen den Mainstream der Gesellschaft. (Streng genommen dürfte nach Adorno in der falschen Gesellschaft überhaupt keine vollkommen richtige Liebe möglich sein, und bei einer längeren Analyse von Liebe würde er mit Sicherheit Elemente von  Falschheit auch in der „richtigen“, dauerhaften Liebe finden – die Gesellschaft lässt nichts unberührt, es gibt nichts, was nicht von ihr und ihrer Falschheit durchdrungen wäre. Die „richtige“, dauerhafte Liebe ist nur relativ richtiger, verkörpert das Streben nach einer richtigen, humanen, nicht verdinglichten Gesellschaft, kann dies aber in einer falschen Gesellschaft nicht abzugsfrei realisieren.)
„Richtig“ zu lieben erfordert, den anderen dauerhaft zu lieben, zu ihm zu stehen, ihn nicht bei erstbester Gelegenheit auszuwechseln. Die gesellschaftliche herrschende Vorstellung der Liebe aber propagiert die Unmittelbarkeit, d.h. die Unterwerfung unters Gefühl; wenn das Gefühl nicht mehr da ist, wirft man auch den Liebespartner weg. Die Forderung nach Unmittelbarkeit hat zwar insofern etwas Richtiges, als sie die Sehnsucht nach Freiheit, insbesondere Freiheit vom Zwang zur Arbeit, zum Ausdruck bringt. In der falschen Gesellschaft unmittelbar angewandt, wird diese Forderung aber zur Ideologie, zum Schleier vor dem Bestehenden: sie suggeriert, dass Freiheit jetzt schon möglich wäre, während in Wahrheit die Gesellschaft eine der absoluten Unfreiheit ist. Der Vorstellung der Unmittelbarkeit und damit der Oberflächlichkeit und Wechselhaftigkeit von Liebe ist daher die Ausdauer, das Festhalten am Anderen entgegenzustellen, das sowohl eine erhebliche Reflexionsleistung – das Durchschauen der Falschheit des gesellschaftlich Propagierten – als auch die in dieser Gesellschaft größtmögliche Annäherung an unverdinglichte menschliche Beziehungen bedeutet.
Die Kritische Theorie ist eine radikale, in dieser (älteren) Fassung heute kaum vertretene Theorie (eine neuere Version der Kritischen Theorie vertritt Jürgen Habermas). Der Gegensatz zu anderen soziologischen Theorien lässt sich nicht nur an der „Schwärze“ vs. „Helle“ des von der Gesellschaft gezeichneten Bildes festmachen, sondern auch an der Vorstellung der Gesellschaft als Totalität vs. Differenzierung. Als Gegenspieler lässt sich hier insbesondere die Systemtheorie Luhmanns nennen, der die Gesellschaft gerade nicht als alles durchdringende Totalität, sondern umgekehrt als gekennzeichnet durch die Autonomie und Eigenständigkeit gesellschaftlicher Teilbereiche – von Politik bis Intimbeziehungen – betrachtet. Für Luhmann kann die Gesellschaft nicht unmittelbar in das Geschehen in ihren verschiedenen Teilbereichen durchgreifen; diese operieren aufgrund ihrer je eigenen Logik, sind nur locker an andere Bereiche gekoppelt, und es gibt keine übergreifende, gesamtgesellschaftliche Logik.
Charakteristisch für die Kritische Theorie ist weiter der Anschluss an die philosophische Tradition und den Bezug auf „große“ Begriffe und Utopien wie Menschheit, Subjekt u.a. Auch dieser Zug wird von kaum einer anderen soziologischen Theorie geteilt. Am absoluten Gegenpol steht hier beispielsweise die Rational-Choice-Theorie (Collins/Coltrane), die soziale Verhältnisse mit betont nüchternen, illusionslosen bzw. desillusionierenden Begriffen wie Nutzen, egoistisch kalkulierende Akteure usw. beschreibt. 

Im Laufe der Evolution des Gesellschaftssystems nimmt die Komplexität der Gesellschaft und der für sie tragbaren Welt zu. Dies verändert allmählich, zuweilen auch  in abrupten Schüben, die Ausgangslage, in der die Kommunikationsmedien operieren. Jeder mitgeteilte Sinn wird zur Auswahl aus mehr anderen Möglichkeiten, alles Bestimmte gewinnt eine höhere Selektivität. Und entsprechend werden Kommunikationsmedien stärker beansprucht. Die Kontingenz der Welt wird zunehmend sichtbar, die Sprache verliert ihre Verbindung mit der Natur, der Bedarf für Begründungen steigt, die Motivation, diesen und nicht anderen Sinn anzunehmen, diesen und nicht anderen Hinweisen im Erleben und Handeln zu folgen, wird schwieriger. Daß Selektion nicht zugleich motiviert, wird nun zum Problem und damit zum Bezugspunkt für die funktionale Spezifikation sozialer Mechanismen. Die einzelnen Kommunikationsmedien lösen sich daher im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung voneinander ab und treten auseinander Es wird möglich, daß der Mächtigste nicht zugleich der Reichste ist und auch nicht glaubt, besonders geliebt zu werden; daß Liebe sich eine wahrheitsunfähige, ja weithin fiktive Welt schafft und sich den Befehlen der Mächtigen, der Hausväter, nicht fügt; daß die Kunst den Gesetzen der Natur und der Sprache spottet. Zugleich werden die Medien, wie wir am Beispiel der Liebe ausführlich zeigen wollen, von allgemeingesellschaftlichen Rücksichten entlastet; vor allem werden die Bindungen an die durchgehend geltende Moral abgebaut und durch Sonderbewertungen – etwa die heuristische, wahrheitsskeptische Forschungsmethode oder die politische ratio status der Neuzeit – ersetzt. Solche Trennungen ermöglichen die funktionale Spezifikation der Medien. Im ihnen liegen die wesentlichen gesellschaftsstrukturellen Bedingungen – nicht unmittelbar für das individuelle Gefühl, aber für die Institutionalisierung von Liebe in Formen, die ihrer Funktion entsprechen und es ihr ermöglichen, jenen gestiegenen gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen. [...]
[Die Neuzeit] deutet Liebe als amour passion, als Leidenschaft. Vordem explizit ausgegrenzt oder als menschliche Unvermeidlichkeit ohne gesellschaftliche Funktion behandelt, wird Passion nun zum führenden Merkmal. Mit ihr verbinden sich in der heute geläufigen, ja fast schon trivialisierten Vorstellung Sinnmomente wie: willenloses Ergriffensein und krankheitsähnliche Besessenheit, der man ausgeliefert ist, Zufälligkeit der Begegnung und schicksalhafte Bestimmung füreinander, unerwartetes (und doch sehnlichst erwartetes) Wunder, das einem irgendwann im Leben widerfährt, Unerklärlichkeit des Geschehens, Impulsivität und ewige Dauer, Zwangshaftigkeit und höchste Freiheit der Selbstverwirklichung – all dies Sinnbestimmungen, die eine positive oder negative Bewertung offenlassen, sich widersprechen können und für sehr verschiedenartige Situationen ein Deutungsschema bereithalten, die aber in einem Grundzug konvergieren: daß der Mensch sich in Angelegenheiten der Liebe von gesellschaftlicher und moralischer Verantwortung freizeichnet. „Passion“ meint den Zustand, in dem man sich passiv leidend, nicht aktiv wirkend vorfindet. Das schließt Rechenschaftspflicht für passioniertes Handeln an sich noch nicht aus. Passion ist keine Entschuldigung, wenn ein Jäger eine Kuh erschießt. Die Lage wendet sich jedoch, wenn Passion als Institution Anerkennung findet und als conditio sozialer Systeme erwartet, ja gefordert wird – wenn erwartet wird, daß man einer Passion verfällt, für die man nichts kann, bevor man heiratet. Dann wird die Symbolik der Passion verwendet, um institutionalisierte Freiheiten zu decken, das heißt abzuschirmen und zugleich zu verdecken. Passion wird dann zur institutionalisierten Freiheit, die nicht als solche gerechtfertigt zu werden braucht. Freiheit wird als Zwang getarnt.
Daran und an den Begleitvorstellungen des romantischen Liebesmythos läßt sich ablesen, daß die Institutionalisierung der Liebe als Passion die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen symbolisiert. Das wichtigste Anzeichen dafür neben dem Abstreifen von Verantwortlichkeiten ist der Umstand, daß Indifferenzen und Irrelevanzen explizit legitimiert werden; daß bei wahrer, echter, tiefer Liebe – auf die Beweisfragen kommen wir noch zurück – es weder auf Stand noch auf Geld, weder auf Reputation noch auf Familie noch auf sonstige ältere Loyalitäten ankommen kann. Das Zerstörerische daran wird gesehen – und geradezu mitgenossen. Das große literarische Thema der standeswidrigen oder im weitesten Sinne unvernünftigen Liebe wandelt sich vom Utopischen ins Komische, ins Tragische und schließlich ins Triviale einer Institution, deren Dysfunktionen fest etabliert sind und bewältigt werden können.
Trotz aller mittelalterlichen Wurzeln der „romantischen Liebe“ ist ihre Institutionalisierung als Ehegrundlage eine entschieden neuzeitliche Errungenschaft, in den ersten programmatischen Postulierungen dem Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts zu danken und dort Bestandteil bürgerlicher Kritik aristokratischer Immoral. Erst damit wird dieses Konzept der Liebe aus den Beliebigkeiten des rein individuellen Erlebens herausgenommen und in sozialen Erwartungen festgemacht. Es erhält den Charakter einer Zumutung – einer Zumutung für die, die passioniertes Lieben anderer miterleben und billigen müssen; einer Zumutung vor allem aber auch für die, die sich verlieben müssen, bevor sie heiraten. Passioniertes Lieben wird zur Erwartung, auf die hin gelernt und erzogen wird, ein sozialer Typus, der schon aus Gründen hinreichender Verständigung nur begrenzte Modifikationen zuläßt. [...] Die Liebe mag dann zunächst auf ein generalisiertes Suchmuster gerichtet werden, das eine Erfüllung erleichtern, einer gefühlsmäßig vertieften Erfüllung aber auch in die Quere kommen kann. Setzt nicht „Liebe auf den ersten Blick“ voraus, daß man schon vor dem ersten Blick verliebt war?
(aus: Niklas Luhmann, Liebe. Eine Übung, Frankfurt: Suhrkamp 2008, S. 25-34, 41)

Luhmann ist der wichtigste neuere Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Ein zentraler Teil seiner Theorie ist die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung, genauer (für die Moderne) die Theorie funktionaler Differenzierung. Danach ist die moderne Gesellschaft in ca. zehn verschiedene Teilsysteme oder Funktionssysteme differenziert (Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Erziehung, Massenmedien, Kunst, Religion, Krankenbehandlung, Intimbeziehungen). Jedes dieser Teilsysteme erfüllt eine eigene Funktion für die Gesellschaft und verfügt über eine eigene Logik oder „Sprache“, die Luhmann mit Begriffen wie Code und Kommunikationsmedium beschreibt. Zentral ist der Gedanke, dass die verschiedenen Bereiche – die es als unterschiedene Tätigkeiten auch vorher schon gab – mit der Umstellung auf die Moderne zunehmend voneinander getrennt werden, dass sie als eigene Systeme ausdifferenziert werden und autonom werden. Sie können sich zunehmend auf ihre je eigene Logik konzentrieren und diese perfektionieren, und sie werden von Rücksichten auf andere Bereiche zunehmend entlastet.
Auch an der Liebe betont Luhmann ihre Ausdifferenzierung gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die Ausdifferenzierung der Liebe, d.h. die Autonomie gegenüber und Unsteuerbarkeit durch andere gesellschaftliche Bereiche, manifestiert sich in der typischen Erlebensweise des Verliebtseins: Das Sich-Verlieben ist eine „Passion“, eine Leidenschaft, gegen die man nichts machen kann und auf die Faktoren aus anderen gesellschaftlichen Bereichen (ökonomische Erwägungen usw.) keinen Einfluss nehmen können. Dies trennt das Geschehen im Bereich der Liebe vom wirtschaftlichen, politischen usw. Geschehen. Bemerkenswert daran ist laut Luhmann nicht nur, dass so ein autonomes, rücksichtsloses Sich-Verlieben vorkommt, sondern vor allem, dass es als Gesellschaftsstruktur institutionalisiert und allgemein akzeptiert wird: In der heutigen Zeit genügt der Verweis auf das kontingente individuelle Erlebnis des Verliebtsein, um eine Partnerschaft und eventuell eine Familie zu gründen und allgemeine Akzeptanz dafür in der Umwelt zu finden.
Das Phänomen der romantischen Liebe geht also laut Luhmann aus Strukturen der modernen Gesellschaft hervor. Die Gefühle, die mit Liebe/Verliebtsein verbunden sind, sind deshalb auch nicht aus der Psyche des Einzelnen heraus verständlich. Vielmehr ist Liebe ein gesellschaftliches Schema, ein vorgegebenes Skript, das man als Mitglied der Gesellschaft erlernt und dann irgendwann an sich selbst erfährt. Man könnte sich gar nicht verlieben, wenn man nicht aus der Beobachtung anderer und aus der Teilnahme an Massenmedien (Filmen,  Büchern usw.) schon wüsste, was das ist: „sich verlieben“.
Luhmann fertigt also ebenso wie Collins/Coltrane eine Beschreibung der Liebe an, die die vom Liebenden erlebte Gefühlsaufwallung nicht einfach als unhinterfragbare Gegebenheit hinnimmt, sondern erklären will. Der Unterschied ist aber, dass Collins/Coltrane die Intensität des Gefühls aus den Schwankungen und Unsicherheiten des Geschehens auf dem „Partnermarkt“ erklären, mithin aus einer ökonomisch-individualistisch gedachten Dynamik, während Luhmann sie aus den Erfordernissen der Ausdifferenzierung eines eigenen gesellschaftlichen Teilbereichs für Liebe bzw. Intimbeziehungen erklärt, und damit aus einer allgemeinen gesellschaftlichen Dynamik, die in ähnlicher Form auch bei anderen gesellschaftlichen Teilbereichen auftritt. Auch betonen Collins/Coltrane die – trotz aller Gefühle dominierende – Rationalität und Nutzenorientierung des Liebenden, würden mithin auch bestreiten, dass es eine Ausdifferenzierung des Liebesgeschehens gegenüber ökonomischen Erwägungen gibt. Sie würden Luhmann vorwerfen, dass er der Selbstwahrnehmung der Liebenden „auf den Leim geht“ und die dahinter steckende nutzenmaximierende Kalkulation nicht durchschaut. Luhmann dagegen sieht die Partnerwahl nicht als rational, vielmehr als kontingent und zufallsabhängig, und er sieht gerade in der Möglichkeit, auf solche Zufälle und die daraus sich ergebende Geschichte Gesellschaftsstrukturen zu gründen, die Besonderheit der modernen Liebe.
Im Gegensatz zu Adorno betont Luhmann die Ausdifferenzierung und Autonomie der verschiedenen Teilbereiche. Was in den Teilsystemen vorgeht, ist nur durch deren interne Logik gesteuert, nicht von außen, durch Zugriff „der Gesellschaft“ oder der alles durchdringenden Tauschlogik. Luhmann würde vehement bestreiten, dass die Gesellschaft – wie Adorno es sieht – Totalität ist, alles Geschehen direkt prägt und vorformt. Die einzige Strukturvorgabe, die die Gesellschaft ihren Teilbereichen noch macht, liegt – so Luhmann – im Erfordernis der Ausdifferenzierung als eigenen, autonomen System selbst (wobei dies allerdings ein Erfordernis sein kann, mit dem nicht alle Bereiche gleichermaßen gut zurecht kommen, die Religion etwa schlechter als die Wirtschaft).

Meeting and being attracted to someone takes place in a large-scale system of exchange. It is like a market, only what is being exchanged are not economic goods and services but people’s own social and personal traits. This characterization seems harsh, as if people were cattle to be bought and sold. In fact, the process has a rather harsh side, particularly when it takes place in situations, like our society, where there is a good deal of status stratification, as well as inequalities between the sexes.
For us, love is supposed to be a highly personal experience. Hence, we do not wish to be conscious of the market forces at work around us that mold our opportunities for falling in love or marrying. In traditional agrarian societies, where the ideal of love was not important, people were much more open about marriage as a market. In Middle Eastern societies even today, or places such a s rural Greece or Sicily, men speak quite plainly of the value of women they might acquire, or of their own daughters and sisters as property that they might use to make an advantageous deal with some prospective suitor. Traditionally, a man’s value was his social status and wealth. A woman’s value was measured by her beauty and youth and especially her virginity. [...]
Such societies show a market system at its most brutal. Even though some of the characteristics of the market have changed, we are still subject to similar pressures. One of the major differences is that families no longer control the marriage market for their children, and men no longer barter away women. Instead, all individuals, male and female, have to enter the marriage market on their own and strike the best deal they can for themselves. A further difference is that the emphasis upon virginity as a key attribute of a woman’s value has declined precipitously, especially in recent years.
But the market still operates in other respects. Social status, earning capacity, and attractiveness are among the resources that each person has to offer. A person’s ability to attract others is heavily influenced by the bundle of resources at his or her disposal. The market consists of all the people who might come into contact with each other and then “compare resources.” Eventually, they find out not only who is available and whom they want but also whom they can get; and the latter depends upon how valuable one is compared with the other people on that market.
To put it very simply: Everybody has a market value. Whom a person will be able to “trade” with depends on matching up with someone of about the same market value. Thus, when any two people come together, each has the following market position:
1. Your own resources include your social status (class, race, ethnicity; your family background; your current occupation), your wealth and your prospects for making more in the future, your personal attractiveness and health, your culture. Even personality traits such as your “magnetism” or charisma are social resources (moreover, as we shall see, they are produced by one’s social position, including one’s position on the market itself). Your market opportunities consist of the people you know who are of the opposite sex, who are heterosexual, and who are not already involved in a relationship that prevents their becoming involved with you. The people in your “opportunity pool,” of course, have their own degrees of attractiveness depending on their resources.
2. The other person’s resources are also social, economic, and physical. His or her opportunity pool also consists of persons of the opposite sex who are known and available, ranked by the attractiveness of their resources.
In every encounter, then, an implicit comparison takes place. You weigh how attracted you are to a person by comparing that person to others whom you know and by determining how confident you feel about being able to “strike a deal” with him. Most people, it should be stressed, are not consciously very calculating about this. But they do make comparisons, whether they consciously want to or not, partly because people have been conditioned to do so on the basis of previous success or failure in both dating and other social situations. [...]
Even in the normal course of events, a market of this sort puts a great deal of strain on the people who go through it. One’s status goes up and down without one’s knowing precisely why or being able to control it, depending upon whom one happens to encounter. [...] Ironically, romantic love is itself produced by the experience of being on this market. The market is the major reason that love is so dramatic. For many people, it is the single most exciting thing that happens in their lives. [...] Thus, everyone experiences the ups and downs of the market.
There is the uncertainty about whom a person will meet, and about whether a given pair will like each other. There is no guarantee that one will hit on a compatible person right away. Even if one does, the pushes and pulls of rivals and rejections in the larger market will usually make for a lot of momentarily raised hopes followed by disappointments. When one finally finds “the right person,” there are still uncertainties. Will he call? What does she really think of me? Quarrels. Misunderstandings. Reconciliations. Rivals, and rivals’ rivals, spreading out into a network of men and women whom one has not even seen.
All these dramatic shifts and uncertainties make the experience an emotional one. Negative emotions—anxieties, anger, and the like—are set against the positive emotions that rise when a person finds someone compatible, someone who seems to reciprocate one’s positive evaluation. Love, we have argued in the foregoing model, is produced by a type of social ritual. Its ingredients include, besides the privacy that focuses on the energies of a small group of just two, the sharing of a common emotion. Where does that emotion come from? It comes from the experience of the market itself. The special feeling about the person whom one loves, which is so strong right at the first, freshest point in the relationship, is the joy that comes from having successfully negotiated a passage through the uncertainties of the market. After the inevitable buffeting about that comes from encounters with persons whose market resources are either too great or too small, a match is generally found. [...] The market bargaining, with its disappointments and blows to the ego, is over. A haven from the market has been found, and the feeling of joy and relief a couple experiences provides the first impetus for the ritual that generates the symbolic attachment of love. Love is a sentiment that arises upon escaping from the market into a safe harbor.
(aus: Randall Collins / Scott Coltrane: Sociology of Marriage and the Family, Chicago: Nelson Hall 1991, S. 295-305)

Collins und Coltrane sind Vertreter der Rational-Choice-Theorie, die davon ausgeht, dass Menschen aufgrund nutzenmaximierender Überlegungen handeln: Sie stellen sich die Frage: „Was nützt mir am meisten?“, und wählen dann rein egoistisch die ihnen am besten scheinende Handlungsstrategie. Soziologisch am sinnvollsten ist es, nutzenmaximierendes Handeln für mehrere Handelnde gleichzeitig zu betrachten, da deren Handlungen typischerweise in Wechselwirkung miteinander stehen. Eine Variante von Rational-Choice-Theorie für mehrere Handelnde ist die Spieltheorie, die fragt, wie die isoliert und unabhängig voneinander getroffenen Entscheidungen zweier oder mehrerer „Spieler“ in bestimmten Situationen zusammenwirken (wobei sie unter Umständen zu unerwünschten, weil suboptimalen Ergebnissen führen). Eine andere Variante ist die Tauschtheorie, die davon ausgeht, dass Individuen begehrte (materielle und immaterielle, etwa soziale) „Güter“ untereinander austauschen; der angestrebte Nutzen für jeden Einzelnen kann also nicht durch eine einsame Handlung bzw. Entscheidung, sondern nur durch einen „deal“ mit einem anderen Tauschwilligen erreicht werden.
Auch der Komplex Liebe/Partnerschaft wird aus tauschtheoretischer Perspektive betrachtet. Liebe ist also für Collins/Coltrane kein auf Gefühlen oder sonstigen irrationalen Kräften beruhendes Geschehen, sondern Ergebnis von Kosten/Nutzen-Abwägungen auf einem Partnermarkt. Auf diesem Markt bietet jeder gewissermaßen sich selbst an und versucht den bestmöglichen „deal“, d.h. den bestmöglichen Partner für sich herauszuschlagen. Der optimale Partner muss auf verschiedenen Skalen wie körperliche Attraktivität, sozialer Status, Verdienst(aussichten) usw. einerseits möglichst hoch rangieren (damit er für mich interessant ist), andererseits aber auch nicht zu hoch (weil er sonst an mir kein Interesse hat). Laut Collins/Coltrane finden sich auf diese Weise Paare von ungefähr gleichem „Wert“ zusammen, bzw. nur wenn sich Paare von gleichem Wert zusammenfinden, sind sie stabil und fallen nicht dem nächsten sich anbietenden potentiellen Partner zum Opfer.
Auf diese Weise entsteht eine provokante, dem lebensweltlichen Erleben widersprechende Beschreibung von Liebe. Eine solche Verfremdung des normalen, alltagsweltlichen Erlebens ist zunächst gut und wünschenswert, ein notwendiges Merkmal soziologischer Theorie. Sie erzeugt jedoch das Folgeproblem, dass dann erklärt werden muss, warum Liebe von den Beteiligten nicht auch so erlebt und wahrgenommen wird. Warum sagen die Leute nicht zueinander: „ich habe dich ausgewählt, weil du am besten dem Profil meiner Vorzüge und Nutzenmaximierungsinteressen entsprichst“, warum sagt man statt dessen „ich liebe dich“ und betreibt den ganzen Aufwand mit Sich-Verlieben, hochkochenden Emotionen, Schmetterlingen-im-Bauch usw.? (jedenfalls in der heutigen Gesellschaft, während es in früheren Gesellschaften laut Collins/Coltrane ja anders war).
Die Antwort von Collins und Coltrane auf diese Frage lautet, dass der Emotionsgehalt des Ganzen durch die Unsicherheit des Marktgeschehens erzeugt wird (Angst, Hoffnung, Enttäuschung usw.). Der Markt und das Prinzip der Nutzenmaximierung produziert als Nebeneffekt die beobachtbare Intensität der Gefühle, und die starken positiven Gefühle beim Finden des „richtigen“ Partners entstehen dann durch die Erleichterung, dass man dem Markt entkommen, in einen „sicheren Hafen“ eingelaufen ist.
Die provokante Reduktion von Liebe auf das Nutzenkalkül von Individuen enthält eine gewisse Parallele zu Adornos Beschreibung von Liebe, insofern Adorno ebenfalls auf die Herrschaft der Kategorie des Tausches und damit auch des Nutzens verweist – nur mit dem Unterschied, dass dies für Adorno falsch ist, Moment der Falschheit der Gesellschaft, und deshalb sowohl theoretisch zu kritisieren als auch praktisch zu verweigern. Für Collins/Coltrane ist die Nutzenorientierung der Individuen dagegen nicht-kritisierte, immer vorausgesetzte Grundannahme ihrer Theorie überhaupt. Adorno würde sagen: Die Rational-Choice-Theorie ist die Hypostasierung, d.h. die theoretische Verewigung und Rechtfertigung der falschen Gesellschaft. Ein Rational-Choice-Theoretiker könnte dagegen sagen: Adorno erträgt den ungeschminkten Blick auf die soziale Realität nicht und muss ihn deshalb mit einem Kranz von Kritik, Utopie, Hoffnung auf Besseres usw. umgeben.
Charakteristisch für Rational-Choice-Theorien ist weiterhin, dass es sich um individualistische, „bottom-up“-Theorien handelt, in denen die soziale Realität allein aus dem Handeln von Individuen entsteht. Alle größeren sozialen Strukturen sind Effekte des Zusammenwirkens von Individuen, sie können aus dem Handeln der Individuen heraus erklärt werden und haben keine davon unabhängige, eigenständige Existenz und Logik. Ganz anders verhält es sich etwa bei Luhmanns Systemstheorie, die – wie viele soziologische Theorien – eine „top-down“-Theorie ist, die zunächst einmal von großen, umfassenden sozialen Strukturen ausgeht und diese in ihrer eigenen Logik, Problematik, Entwicklungsdynamik usw. beschreibt. Individuelle Handlungen kommen im Rahmen dieser größeren Strukturen natürlich vor, jedoch ist eher das Handeln und Erleben der Individuen durch die Natur der sozialen Ordnung geformt als umgekehrt.


Veranstaltungen

Veranstaltungen des Arbeitsbereiches entnehmen Sie bitte dem ekVV.


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