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  • Linguistische Differentialtypologie - Ziele und Ansätze

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Grundidee, Zielsetzung

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Linguistische Differentialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen: Diagnostische und therapeutische Aspekte.

Das Projekt liegt im Schnittpunkt von Konversationsanalyse und Epileptologie.

Es wird linguistisch untersucht, wie anfallskranke PatientInnen ihre Anfälle oder die Auren (Vorgefühle), die ihnen vorausgehen, ihren ärztlichen oder therapeutischen GesprächspartnerInnen beschreiben.

Der Grundgedanke liegt in der Annahme, dass die Darstellungs- und Formulierungsmuster, mit deren Hilfe PatientInnen ihre subjektiven Empfindungen, Erfahrungen und Anfallsverläufe schildern, etwas mit der Art ihrer Anfallserkrankung zu tun haben. Das Ziel des Projekts ist es also herauszufin-den, ob unterschiedliche Anfallsformen auch in unterschiedlichen sprachlichen Erscheinungsweisen ihren Ausdruck finden, d.h. umgekehrt ob die von den PatientInnen bei der Darstellung ihrer Auren bzw. Anfälle gewählten Formulierungsmuster Rückschlüsse auf die Art ihrer Anfallserkrankung erlauben.

Außerdem stellt sich die Frage, ob das Erkennen unterschiedlicher linguistisch beschreibbarer Kommunikationsstile auch zu spezifisch geeigneten Interventionsformen führen kann. Möglicherweise lassen sich nicht nur Erkenntnisse über syndromspezifische Formen der Krankheitsverarbeitung gewinnen, sondern darüber hinaus auch spezifische Empfehlungen für die Form des ärztlichen bzw. therapeutischen Umgangs entwickeln.

Die systematische linguistische Analyse der sprachlichen Darstellungen der PatientInnen soll also differentialdiagnostisch ausgewertet und therapeutisch nutzbar gemacht werden.


Beginn der Projektarbeit

Angeregt wurde die Projektarbeit 1995 durch den Neurologen Dr. Martin Schöndienst, Oberarzt am Epilepsie-Zentrum Bethel. Ihm waren die unter-schiedlichen sprachlichen Stile aufgefallen, in denen PatientInnen ihre Aura- bzw. Anfallswahrnehmungen schilderten. Da ihm aber das sprachwissenschaftliche Instrumentarium fehlte, um die wahrgenommenen Unterschiede präzise zu erfassen, suchte er die Zusammenarbeit mit LinguistInnen der Bielefelder Universität.

Hinweise auf sprachliche Eigentümlichkeiten von Epilepsiekranken finden sich schon in früheren Arbeiten von Epileptologen, beispielsweise in Bemerkungen über Formulierungsschwierigkeiten, die sich in mehrfachen Ansät-zen zu immer neuen Formu-lierungsversuchen und Reformulierungen aus-drücken, über den Gebrauch von Metaphern vor allem zum Ausdruck von Vertrautheit ("déjà-vu") oder Fremdheit ("jamais-vu") und Vagheitsindikato-ren (wie "es", "etwas", "irgendwie"). Doch wurde diesen Beobachtungen nie systematisch nachgegangen. Die Herausarbeitung solcher sprachlicher Phänomene bei der Darstellung von Anfallserlebnissen ist das Ziel des gegenwärtigen Projektes.

Vorarbeiten zur Projektarbeit begannen im jahr 1995.In den Jahren 1996 bis 1998 wurde das Projekt aus Mitteln der Universität Bielefeld gefördert, von März 1999 bis Februar 2001 von der Deutschen Forschungs Gemeinschaft (DFG) gefördert. Neue Drittmittelanträge sind in Vorbereitung. Derzeit wird das Projekt unterstützt von der Universität Bielefeld, die Erstellung neuer Transkriptionen ermöglichte zwischenzeitlich die Gesellschaft für Epilepsieforschung e.V., Bethel.


Das Corpus/Untersuchungsmaterial

In dem Projekt wird an Ton- und Videoaufnahmen von Gesprächen mit PatientInnen aus dem Epilepsie-Zentrum Bethel gearbeitet. 

Das Aufnahmecorpus besteht derzeit aus etwa 115 Gesprächen mit 90 verschiedenen ambulant oder stationär behandelten PatientInnen, die seit 1994 in der Klinik Mara I mit Einverständnis der PatientInnen aufgezeichnet wurden.

Es handelt sich zum größten Teil um Gespräche zwischen PatientInnen und den behandelnden NeurologInnen, die durchschnittlich etwa 20 Minuten dauern. Weiterhin liegen Gespräche aus der Chefarzt-Visite vor; diese dauern in der Regel 5 bis 10 Minuten. In geringerer Anzahl vorhanden sind iktale (während eines Anfalls oder unmittelbar im Anschluss daran geführte) Gespräche und Videokonfrontationen (das sind Gespräche, in denen PatientInnen mit Videoaufnahmen ihrer eigenen Anfälle konfrontiert und um Stellungnahmen und Gefühlseindrücke gebeten werden). 

Es handelt sich in allen Fällen um Gespräche aus dem normalen Klinikalltag, die ohnehin im Ablauf der Behandlung erforderlich waren und also auch ohne das durch das Projekt motivierte Interesse an der Aufzeichnung geführt worden wären. Ein Teil der Aufnahmen ist unabhängig von dem Projekt zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken entstanden und wird der Projektgruppe von der Klinik zur Verfügung gestellt (vor allem iktale Interviews und Videokon-frontationen). Ein anderer Teil (besonders Gespräche in der Ambulanz und in der Chefarzt-Visite) wurde im Zusammenhang mit den Vorarbeiten zu diesem Projekt aufgezeichnet. 

Zu Beginn wurden die Gespräche zwischen ÄrztInnen/TherapeutInnen und PatientInnen so aufgenommen, wie sie in der medizinischen Praxis ?natürlich? entstanden. So waren sie recht unterschiedlich z.B. im Hinblick darauf, wann und wie im Gesprächsverlauf das Anfallsgeschehen thematisiert wurde, welche Gelegenheiten die PatientInnen hatten, um bestimmte Aspekte in eigener Initiative anzusprechen etc. 

Um eine größere Homogenität der Gespräche zu erzielen, wurde ein Leitfaden für den am Gespräch beteiligten Arzt entwickelt. Er orientiert sich an den bisherigen Analysen, d.h. ihm liegen die Beobachtungen über Unterschiede zwischen den PatientInnen in Gesprächsverhalten, Darstellungs- und Formulierungsmustern und Hypothesen darüber, was eventuell differential-diagnostisch relevant sein könnte, zugrunde. Der Leitfaden enthält inhaltliche und technische Vorgaben, die dem Arzt Richtlinien für die im Gespräch zu behandelnden Themen, die ungefähre Dauer des Gesprächs und der einzelnen Gesprächsphasen sowie für sein Gesprächsverhalten geben: Für die erste Gesprächsphase ist eine offene Gesprächsführung und die Ein-schränkung eigener Frageaktivitäten vorgesehen, so dass die PatientInnen die Möglichkeit haben, eigene thematische Relevanzen zu setzen; im weiteren Verlauf sollen beispielsweise anfallsfokussierte wie auch nicht-anfallsbezogene Narrationen angeregt werden. Erst in einer zweiten Interviewphase wird eine klassische Anfallsanamnese durchgeführt. 

Der Leitfaden zielt in erster Linie darauf ab, durch den Gesprächsverlauf vergleichbare Interaktionsbedingungen für die PatientInnen zu schaffen, um Zugang zu deren eigenen Relevanzsetzungen, ihren spontan bevorzugten Darstellungsmitteln und ihren Auffassungen z.B. über Bearbeitungsbedürftigkeit dargestellter Sachverhalte zu erlangen.


Corpusaufbereitung

In einem ersten Aufbereitungsschritt werden Übersichten der Gespräche erstellt. Sie geben deren sequenziellen Ablauf wieder und liefern Stichworte zu ersten Auffälligkeiten und möglichen Analysegesichtspunkten, denen bei genauerer Erfassung nachgegangen werden kann. 

Für die Analyse werden die Gespräche nach einem in Anlehnung an konversationsanalytische Arbeiten entwickelten Transkriptionssystem verschriftlicht. Diese Transkripte geben in Partiturschreibweise (zur Erfassung des zeitlichen Verhältnisses der Gesprächsäußerungen) den genauen Wortlaut, zusätzlich aber auch paraverbale und prosodische Phänomene (Lautstärke, Stimmhebungen oder -senkungen, Betonungen, Dehnungen, Verzögerungen, Pausen, Lachen, Räuspern usw.) wieder. Später sollen anhand der Video-Aufnahmen zusätzlich non-verbale Phänomene wie Mimik und Gestik, die sich in verschiedener Hinsicht für die Fragestellungen des Projekts als rele-vant erweisen könnten, berücksichtigt werden.

Aus Datenschutzgründen werden die PatientInnen in den Aufzeichnungen und Transkripten sowie in allen Verwendungszu-sammenhängen (z.B. Tagungen oder Seminaren) ausnahmslos mit erfundenen Namen bezeichnet. Im öffentlichen Rahmen werden zudem nur die Transkripte verwendet, während die Aufnahmen selbst und etwaige Video-Transkriptionen nur dem engeren Kreis der Projektgruppe zugänglich sind.


Methodische Vorgehensweise

Die Analysen werden im theoretischen und methodologischen Rahmen einer linguistischen Konversationsanalyse ethnomethodologischer Orientierung durchgeführt. Damit sind bestimmte Analyseprinzipien verbunden:

Jede Äußerung wird grundsätzlich als ein interaktives Produkt angesehen, insofern in jedem Fall - auch wenn im Wesentlichen nur einer der Gesprächsbeteiligten spricht - ihr Zustandekommen auch durch den jeweiligen Hörer mit getragen wird. Speziell bei der Analyse der Formulierungsarbeit wird die Interaktivität darin deutlich, dass z.B. bei Reformulierungen einerseits Selbst- und Fremdbezug und andererseits Selbst- und Fremdinitiierung berücksichtigt werden.

Dabei folgt die Analyse Schritt für Schritt dem zeitlich linearen Entstehungsprozess des Gesprächsverlaufs und arbeitet heraus, wie die einzelnen Gesprächsbeiträge aufeinander bezogen sind, welche konditionellen Relevanzen mit einem Gesprächszug etabliert werden und ob diese vom Gesprächspartner eingelöst werden oder nicht. Die Interpretation der interaktiven Bedeutung von Gesprächsäußerungen folgt dabei der Perspektive der Beteiligten; sie versucht nicht, Interaktionsereignisse ?von außen? zu verstehen und zu bestimmen. 

Für die Analyse ist es wesentlich, dass möglichst wenig vorgefasste Kategorien an das zu untersuchende Material herangetragen werden. Vielmehr muss die Analyse - im Sinne einer ?gegenstandsadäquaten Methodisierung? (Bergmann) - 'sich vom Material leiten lassen', offen sein für das, was sie in den Daten auffindet, um die Perspektiven der Beteiligten, ihre Relevanzen usw. zu erfassen und die relevanten Kategorien aus den Daten heraus entwickeln.

Für die Analyse ist es wesentlich, daß keine vorgefaßten Kategorien an das zu untersuchende Material herangetragen werden. Vielmehr muß die Analyse - im Sinne einer ?gegenstandsadäquaten Methodisierung? (Bergmann) - 'sich vom Material leiten lassen', offen sein für das, was sie im Material auffindet, um die Perspektiven der Teilnehmer, ihre Relevanzen usw. zu erfassen, und die relevanten Kategorien aus diesem heraus entwickeln.


Tagungen/Kolloquien

In Kooperation mit der Linguistin Elisabeth Gülich fanden erste Analysen von Gesprächen im Rahmen von zwei interdisziplinären Kolloquiumsveranstaltungen statt, an denen Linguisten (aus den Bereichen Konversationsanalyse und Klinische Linguistik), Ärzte, Gesundheitswissenschaftler sowie im Epilepsie-Bereich in Bethel tätige Pädagogen und Sozialarbeiter teilnahmen, sowie von einer seit längerem an der Fakultät bestehenden konversationsanalytischen Forschungsgruppe, in der auch intensivere konzeptionelle und methodologische Arbeit geleistet wurde.


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