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KrisenBILDUNG

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Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf das Coronavirus und seine gesellschaftlichen Auswirkungen

5 Fragen an: Prof.in Dr. Bettina Amrhein

Bettina Amrhein ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Inklusion im internationalen Kontext unter besonderer Berücksichtigung von Diagnose und Förderung und lehrt und forscht seit 2015 an der Uni Bielefeld zu Fragen/Themen der nationalen und internationalen inklusionsorientierten Schul- und Unterrichtsentwicklung, insbesonde­re mit Blick auf Schüler/-innen, die unter erschwerten Lern- und Entwicklungsbedingungen aufwachsen.

Da stimme ich natürlich auf gar keinen Fall zu. Ich teile jedoch die Beobachtung, dass in den großen Fernsehtalkshows und auch Tageszeitungen die Perspektive der Erziehungswissenschaft eher zu kurz kommt. Es gibt jedoch schon Kolleg*innen, die sich auch lautstark zu Wort melden. Nur ein Beispiel ist das Schulbarometer des Kollegen Prof. Stephan Huber aus der PH Zug. Er hat mit seinem Team in schwindelerregendem Tempo eine Befragung von Eltern und Lehrkräften in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Beine gestellt. Die Kolleg*innen kommen u.a. zu dem Ergebnis, dass Schüler*innengruppen (Daten von 8.344 Schüler*innen) mit niedrigeren häuslichen Ressourcen in Zeiten der Schulschließung deutlich weiter abgehängt werden und sie versuchen somit, die Rolle familiärer Merkmale für das Lernen von Schüler*innen zu beschreiben. Sie schließen aus den Daten, dass sich häusliche Ressourcen wie technische Ausstattung und elterliche Unterstützung auf die Emotionen, den Lernaufwand und den Lernerfolg der Schüler*innen auswirken.

Dieser Studie möchte ich jedoch in Anlehnung an den Beitrag von Nina Bremm & Kathrin Racherbäumer (DDS 2020, 202-215) ergänzend betonen, dass die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit vor allem auch im Bildungssystem stattfindet und durch den begleitenden öffentlichen Diskurs oftmals ungewollt reifiziert und verstärkt wird. Die beiden Kolleginnen beschreiben sehr richtig, wie Im bildungsöffentlichen Diskurs momentan Rückstände bezogen auf die häusliche Lernsituation benachteiligter Schüler*innen in den Fokus gerückt und darum geworben wird, insbesondere diese Schüler*innen nicht zu überlasten.

Ich bin finde es aktuell jedoch eher problematisch, dass mögliche geringere Lernzuwächse von sozial benachteiligten Schüler*innen während des „Fernunterrichts“ im Nachgang wiederum eher individuell und bezogen auf familiäre Ausstattungsmängel und defizitäre Unterstützungspraktiken zu erklären versucht werden. Die Verantwortung des Bildungssystems, für jedes Kind und jede Lehrkraft förderliche Vorrausetzungen für das Lehren und Lernen zu ermöglichen, tritt aktuell zu stark in den Hintergrund.

Wie soeben bereits verdeutlicht werden aus meiner Sicht vor allem schon lange bekannte Mängel unseres auf Selektion hin ausgerichteten Erziehungs- und Bildungssystems deutlich. Die zur Zeit viel benutze Metapher eines „Brennglases“ kann hier ebenfalls verwendet werden. Wie unter einem solchen zeigt sich aktuell, dass schulische Bildung nach wie vor als Privileg von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich Bildungsbenachteiligung im Schulsystem manifestiert. Sehr deutlich zeigt sich dies am Beispiel der sozialen Verarmung der Lernumwelt von Hauptschüler*innen.

Schulinstitutionelle Karrieren von Kindern und Jugendliche hängen eben nicht nur von ihrem Verhalten ab, sondern wesentlich auch von der Möglichkeit, die ihnen die Organisation Schule gibt. Im Deutschen Bildungssystem wird seit Jahrzehnten wissentlich in Kauf genommen, dass die „Kehrseite“ der Leistungsdifferenzierung im System vor allem auch eine soziale Segregation mit sich bringt.

In Bezug auf mein Forschungsfeld, dass sich insbesondere auch mit der Beschulung von Kindern und Jugendlichen unter erschwerten Lern- und Entwicklungsbedingungen im Kontext von Inklusion beschäftigt, bedeutet dies erneut, nicht müde zu werden, in Forschungsprojekten an der Frage zu arbeiten, wie sich Bildungsungleichheit insbesondere auf Schüler*innen in belasteten Lebenslagen auswirkt. In unserem aktuellen vom BMBF geförderten Projekt RAISE (Restorative Approaches in School Environments – Entwicklung und Evaluation eines Fortbildungsprogrammes für Lehrkräfte zur Gestaltung schulischer Inklusion im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung) untersuchen wir zum Beispiel, wie durch den im internationalen Raum bereits weit verbreiteten Restorative Approach, die Wahrung und Wiederherstellung positiver Beziehungen zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen und zwischen Schüler*innen und Schüler*innen in den Fokus genommen werden kann. Der Ansatz grenzt sich damit sehr deutlich von den bislang im deutschen Schulsystem noch sehr verbreiteten, strafend-stigmatisierenden eher behavioristisch ausgerichteten Ansätzen ab, die sehr stark auf eine Verhaltensänderung beim Kind bzw. Jugendlichen setzen.

Dabei fällt mir im Rahmen der Lehrer*innenausbildung immer wieder auf, dass wir Studierende viel zu wenig in Kontakt mit dieser Perspektive auf Konflikte im Unterricht bringen. Die hier dominierenden eher interventionistisch anmutenden Programme zum Umgang mit dem sogenannten sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung nehmen hier eindeutig zu wenig in den Blick, dass Schwierigkeiten im Bereich des Verhaltens von benachteiligten Schüler*innen als ein Ergebnis gesellschaftlich erzeugter Auf- und Abwertungen von Fähigkeiten und Praktiken unterschiedlich privilegierter sozialer Gruppen zu verstehen sind. Hier kann die Forschung zu Prozessen der Ungleichheits(re-)produktion in sozialräumlich benachteiligten Schulen, wie sie in den letzten Jahren auch in Deutschland vermehrt betrieben wurde, wichtige Impulse liefern.

Da stimme ich voll zu. In jeder Krise liegt auch eine Chance. Es kommt jedoch darauf an, diese auch zu nutzen. Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Antworten, würde ich eine erhebliche Chance darin sehen, alte Ungleichheiten unseres Bildungssystems neu unter die Lupe zu nehmen und zwar „Hand in Hand“ mit Bildungsverwaltung und vor allem Bildungspolitik. Aus meiner Sicht kann ein Wandel zu mehr Bildungsgerechtigkeit nur gelingen, wenn wir diesen mehrebenentheoretisch denken. Ich halte es für problematisch, wenn wir als Wissenschaftler*innen uns gerade auch im Kontext der Herausbildung eines an inklusionspädagogischen Prinzipien orientierten Bildungssystems auf der Vorderbühne in immer neue Inklusionsrhetoriken verwickeln lassen, um am Ende empirisch festzustellen, dass die inklusive Bildungsidee, nicht unser Schulsystem transformiert, sondern genau der umgekehrte Prozess gerade stattfindet. Um es mit Georg Feuser auszudrücken: Wider die Integration der Inklusion in die Segregation.

Ich persönlich habe besonders viel gelernt aus der aktuellen Krise. Mit dem jetzigen Blick ist das ein ziemlich rastloses Leben gewesen, das ich da beruflich geführt habe. So viele Tagungen und Anfragen und noch viel mehr Meetings, die es zu bewältigen gab. Manchmal habe ich versucht, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, weil so viel passierte. Das Stilllegen dieses mir schon zur Gewohnheit gewordenem Rhythmus tut sehr gut und lässt Raum für neue Ideen für Lehre und Forschung. Ein ganz zentraler persönlicher Lernerfolg liegt für mich daher darin, vor allem mehr Pausen in den Arbeitsalltag einzubauen und mehr aus dem Inneren heraus zu steuern.

Wir wissen, dass der Rückstand von benachteiligten Schulen im Zugang zum Internet im Vergleich zu allen (öffentlichen) Schulen eher gering ist. Empirisch gibt es auf Grundlage der PISA-Daten somit keine eindeutigen Hinweise, die die These stützen, dass eine drohende steigende Bildungsungleichheit durch die Corona-Pandemie ausschließlich durch systematisch differierende Ausstattungsverhältnisse in privilegierten und benachteiligten Lagen zustande kommen könnte.

Aus meiner Sicht, sollte der Fokus der Bildungspolitik daher eindeutig darauf gerichtet werden, wie stark durch die Beschaffenheit unseres gegliederten Bildungssystems, Bildungsbenachteiligung zementiert wird und Bildungschancen nicht eingelöst werden können. Die Befundlage ist seit Jahrzehnten derart erdrückend. Außerdem ist längst bekannt, dass staatlich finanzierte Programme für sogenannte „Problemjugendliche“, die nach dem Verlassen der Schule beginnen und darauf abzielen, ihre Startchancen in die Arbeitswelt zu verbessern, viel zu spät einsetzen. Wir wissen auch, dass diese zu einer weiteren Individualisierung der Problemlagen beitragen kann, anstatt systemisch darauf zu blicken. In der Regel handelt es sich daher um Maßnahmen in einem „Parallelsystem“, in dem diese Jugendlichen wieder unter sich sind und mit dem die Kanalisierungen und Zuschreibungen des Schulsystems fortgeschrieben werden.

Aus meiner Sicht sollte daher die kritische Frage gestellt werden, welcher Beitrag von Schule und Lehrkräften zur Reproduktion von Bildungsbenachteiligung nach wie vor ausgeht und wie dieser von Bildungsadministration und Bildungspolitik in enger Partnerschaft mit u.a. der Erziehungswissenschaft bearbeitet werden kann. Dabei sollte der Fokus insbesondere auf die institutionellen Faktoren auf der Ebene des Schulsystems sowie des Unterrichts der einzelnen Schule gelegt werden. Für uns Wissenschaftler*innen bedeutet dies insbesondere Theorien zur Bearbeitung der Phänomene heranzuziehen, die sich stärker auf den institutionell-kontextuellen Bereich als auf den individuell-familialen Bereich beziehen. Auch wenn wir wissen, dass hier von einer Wechselwirkung beider Ansätze ausgegangen werden muss.

Auch müssten aus meiner Sicht dringend die Fragen nach der Beschaffenheit der Schüler*innen-Lehrer*innen-Beziehung, und hier insbesondere sogenannte Defizitorientierungen auf Seiten der Lehrkräfte, als relevante Erklärungsfaktoren für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit in benachteiligten Schulen weiter bearbeitet werden.


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