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SFB 584: Verfassung des politischen Raums

Der Übergang von einer konstitutionellen zur demokratischen Verfassung ist darauf angelegt, den Raum des Politischen sowohl auszuweiten als auch zu strukturieren. Dass diese Vorgaben in Deutschland vielfach erst nach 1945 Wirklichkeit werden konnten, war wesentlich eine Leistung des Bundesverfassungsgerichts. In diesem Projekt, das Teil des Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ ist, soll in vergleichender Perspektive gefragt werden, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit den politischen Raum dimensioniert, welche Elemente sie für ihn als konstituierend ansieht und wie sie in diesem Kontext das Verfassungsrecht als Ausprägung, Grundlage und Grenze des Politischen einordnet.


Teilstudie 1: Politisierung des Rechts oder Verrechtlichung des Politischen: Entstehung und Wandlung eines Erklärungsmusters

Bereits in der ersten grundsätzlichen Diskussion der Weimarer Staatsrechtswissenschaft über die Bedeutung der Staatsgerichtsbarkeit zeichnete sich eine Grundsatzkontroverse ab, deren Zentralthema so formuliert werden kann: Bewirkt Verfassungsgerichtsbarkeit Politisierung oder Entpolitisierung? Wird also durch die Einführung von Verfassungsgerichten das Politische selbst zum Gegenstand gerichtlicher Verfahren, welche dann ihrerseits politisiert werden? Oder entziehen Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit die von ihnen geregelten oder zu entscheidenden Fragen (zumindest teilweise) dem politischen Prozess und erscheinen daher als Instrumente funktionaler Entpolitisierung? In historisierender Perspektive befasst sich die Teilstudie mit Kontinuität und Wandlung dieser Ausgangsthesen, die bei der Schaffung des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts präsent waren und in der Folgezeit die Debatten um die Tätigkeit des Gerichts, namentlich aus Anlass wichtiger Einzelentscheidungen, prägten. 

Die Aufnahme der vorgefundenen Fragen durch das Gericht geschah weder linear durch Rezeption der – insoweit offenen – Aussagen von Verfassungs- und Gesetzgeber, noch durch bloßen Rückgriff auf den Erkenntnisstand der Staatsrechtslehre. Vielmehr bemühte sich das Gericht seit seinem Entstehen um eine eigenständige Positionierung, welche in Abgrenzung zu anderen Akteuren im politischen Raum wie auch zur Rechtswissenschaft untersucht wird. Primär geht es um die politische Diskursgeschichte, um die Äußerungen beteiligter Politiker, Richter usw. sowie um deren Deutung im Rahmen historischer Reflexionsdiskurse. Darüber hinaus wird analysiert, inwieweit jene Diskurse in wichtige Entscheidungen des Gerichts Eingang gefunden haben. Insofern Regierungen und Politiker den politischen Kampf vor das Verfassungsgericht trugen, wurde dieses selbst zu einem Politikum. Gefragt wird daher auch, wie das Gericht sich den Versuchen seiner Politisierung stellte. Schließlich soll rekonstruiert werden, wie die ursprünglichen Fragestellungen tradiert oder verändert wurden, wobei gezeigt werden kann, dass diesbezügliche Positionen sich von der strikten Alternative „Recht oder Politik“ bzw. „Recht und Politik“ immer mehr verschoben in Richtung auf differenzierte Aussagen, welche die Grundfragen teils durch Modifizierung, teils durch bereichsspezifische Antwortansätze fortentwickelten. In der Folge veränderten sich auch die jeweiligen Diskurse: Während rechtliche Kategorien in den politischen Diskurs einzogen, fand sich in der Rechtswissenschaft ansatzweise eine Öffnung für politische und sozialwissenschaftliche Theorieansätze.

 

Projektbearbeiter: Hauke-Hendrik Kutscher

 

Teilstudie 2: Ein Vergleich: Politisierung der  Rechtsprechung oder Verrechtlichung der Politik durch supranationale Gerichtsinstanzen – Das Beispiel des EGMR

Als Vergleich zur bundesrepublikanischen Entwicklung soll der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) herangezogen werden. Wirkte er zu Beginn noch als Reserveinstanz in einem stark politisch geprägten Schutzmechanismus (das politisch besetzte Ministerkomitee des Europarats konnte in die Überprüfung einer behaupteten Menschenrechtsverletzung einbezogen werden), entwickelte sich das Verfahren schrittweise zu einem justizförmigen Mechanismus zum Schutze der Menschenrechte fort. Diese Entwicklung fand 1998 ihren vorläufigen Abschluss in dem für alle Konventionsstaaten verbindlichen und direkten Individualverfahren vor dem Gerichtshof. In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Frage: War die Herausbildung einer europäischen Menschenrechtskultur, -dogmatik und berechenbarer Entscheidungsstandards durch den Gerichtshof und die ihn begleitende Rechtswissenschaft eine wesentliche Voraussetzung für den Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten, welche die justizförmige Ausgestaltung des Verfahrens erst ermöglichte und eine Entpolitisierung bedeutete? Dieser Fragestellung soll in dem 2. Teilprojekt nachgegangen werden.
Es waren jedoch nicht nur die historischen Entwicklungen des Prozessverfahrens des EGMR, die für die vorliegende Forschungsarbeit von Interesse sind. Auch der EGMR kommt im Rahmen seiner Entscheidungstätigkeit nicht umhin, sich zu einzelnen Grenzen und Strukturen des politischen Raumes zu äußern. Mehrere Rechte der EMRK sind politisch relevant (etwa: Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK); Versammlungs- und Vereinsfreiheit (Art. 11 EMRK), freie Wahlen (Art. 3 im 1. Änderungsprotokoll zur EMRK u.a.)) und dadurch als Konstitutionselemente des Politischen zu begreifen. Der Gerichtshof nimmt beispielsweise unmittelbaren Einfluss auf den politischen Raum, wenn er über die Rechtmäßigkeit eines national ausge- sprochenen Parteiverbots entscheidet. Ebenso wichtig ist die Kompetenz des Gerichtshofs, sich im Rahmen der Art. 8-11 Abs. 2  EMRK zu der Frage zu äußern, ob ein „Gesetz … in einer demokratischen Gesellschaft“ zu bestimmten, dort näher ausgeführten Zwecken „notwendig“ ist. Diese Formel eröffnet dem EGMR die Möglichkeit, sich zu dem von der EMRK vorausgesetzten politischen Raum zu äußern. Auch wenn die Formel einen  weiten Entscheidungsfreiraum für den nationalen Gesetzgeber eröffnet, so ist dieser bei der Ausübung seiner Gestaltungsfreiheit an den durch die EMRK gesetzten Rahmen gebunden. Die Konvention statuiert also nicht selbst alle politischen Räume einschließlich ihrer Binnenstrukturen. Doch enthält sie bestimmte Vorgaben und Voraussetzungen, die für alle Mitgliedstaaten des Europarates verbindlich sind. Hier zeigen sich Ansätze einer grundrechtlich gestützten Auffassung von Politik und Staatlichkeit, die hier systematisiert und weiter entfaltet werden soll.

 

Projektbearbeiterin: Ariane Kunze


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