Ich stand noch dreimal auf und überzeugte mich davon, daß hier, drei Meter vor mir, wirklich etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles war, das mich am Weitergehen hinderte. Ich dachte an eine Sinnestäuschung, aber ich wußte natürlich, daß es nichts Derartiges war. Ich hätte mich leichter mit einer kleinen Verrücktheit abgefunden als mit diesem schrecklichen unsichtbaren Ding.
Marlen Haushofer: Die Wand. Die gesammelten Romane und Erzählungen, Bd. 3, hrsg. v. Daniela Strigl, Berlin 2023, S. 25.
Wände als Barrieren
Mit diesen Worten beschreibt Marlen Haushofer eine wie aus dem Nichts auftauchende glatte und unsichtbare Wand in ihrem gleichnamigen Roman (1963), die die Protagonistin plötzlich von der Außenwelt abschirmt, einsperrt und trennt.
Wände sind ein wesentlicher, aber selten bewusst als Barriere wahrgenommener Bestandteil unseres Alltags. Es handelt sich dabei zunächst einmal um senkrecht stehende, raumbildende und zugleich -abgrenzende Flächen. Jede*r kennt sie. Sie lassen Räume entstehen, sie sind Grenzen, Schwellen bzw. ein Dazwischen von den Oppositionen Außen und Innen, von Teilhabe oder Ausschluss und zugleich ein Zwischenort. Landläufige Metaphern sind „wie vor eine Wand laufen“ oder „(sich ein-)mauern“, die die Unüberwindbarkeit von Wänden hervorheben. Die unsichtbare Wand von Haushofer erinnert zudem an eine gläserne Decke, die als Metapher für unsichtbare Barrieren verwendet wird, welche Frauen oder andere marginalisierte Gruppen daran hindern, höhere Führungspositionen einzunehmen.
Wände spielen auch an der Universität eine große Rolle. Konkret spiegeln sie über Größe und Ausstattung mehr oder weniger privilegierte Arbeitsplätze: Einige Personen arbeiten in Einzelbüros, während andere ihren Arbeitsplatz in der Großküche oder als Reinigungskräfte auf den Fluren haben.
Wände und Räume dienen als Motiv in der Kunst und Literatur weiblich und oder queer gelesener Autor*innen und Künstler*innen häufig als Ausgangspunkt des Erzählens: Sei es in mittlerweile kanonischen Erzählungen, etwa von Charlotte Perkin Gilmans „Die gelbe Tapete“ (1892), Virginia Woolfs „A Room of One’s Own“ (1929) oder James Baldwins „Giovannis Zimmer“ (1956), den künstlerischen Arbeiten von Impressionistinnen aus dem 19. Jahrhundert wie Mary Cassatt und Berthe Morisot bis zu Kunst im Zeichen revolutionärer Bewegungen wie den Muralist*innen in Mexiko, die für ihre Arbeiten die als bürgerlich verschriehene Leinwand der Malerei gegen Wände öffentlicher Gebäude eintauschten. In und mit dieser Tradition arbeitet auch die mittlerweile in Bielefeld lebende Künstlerin Cecilia Herrero-Laffin, die auf Initiative des studentischen Frauencafés Anaconda 2009 das Wandbild „Uni Alltag – Frauen an der Universität“ gegenüber der U-Bahnhaltestelle „Universität“ entwarf und realisierte.
An der Stadtbahnhaltestelle „Universität“, an der täglich Hunderte Studierende und andere die Tram aus oder in Richtung der Innenstadt nehmen, mehrten sich an der Wand des gegenüber liegenden Parkhauses sexistisch-diskriminierende Werbeplakate mit z.T. homophoben und rassistischen Inhalten, deren Vielzahl begegnet werden musste. Student*innen vom Frauencafé Anaconda protestierten als erste gegen diese macht- und hassvolle Rede im öffentlichen Raum im Kontext einer Universität. Die Student*innen, vor allem Karin Griffiths, So-Rim Jung und Loreen Diewell, initiierten einen Aufruf und gewannen für ihr Anliegen mit der Zeit nicht nur die Unterstützung von Rektorat, der Gleichstellung, Unigesellschaft und dem Zentrum für Ästhetik, sondern für die künstlerische Ausführung auch die international erfahrene Wandbildspezialistin Cecilia Herreo-Laffin.
Cecilia Herrero-Laffin, die 1960 in Justo Daract, San Luis, in Argentinien geboren wurde, studierte von 1977 bis 1982 an der dortigen Kunsthochschule „Antonio N de San Luis“. Später besuchte sie für weitere zwei Jahre die Schule für Wandmalerei „David A. Siqueiros“ in Managua in Nicaragua. Nach Arbeitsaufenthalten in Kuba, der Schweiz, den USA und Deutschland bekam sie 1997 ein Stipendium des DAAD an der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg und realisierte neben Wandbildern zahlreiche Ausstellungen zu Arbeiterinnen, u.a. in Fabriken. Das Thema der Arbeit, vor allem der wenig beachteten und wert geschätzten Fabrikarbeit von Frauen, beschäftigte und beschäftigt sie seitdem. Für die Präsentation ihrer Ausstellungen wählt Cecilia Herrero-Laffin häufig Orte abseits der Galerie oder des Museums und bringt die Kunst an die Orte ihrer Protagonistinnen, sprich in die Fabrik bzw. konkret an die Arbeitsplätze der Frauen. Kollaboration ist ein wichtiger Aspekt im Arbeiten und Werk von Cecilia Herrero-Laffin, der sich auch bei der Formfindung des Wandbildes der Uni Bielefeld zeigt. Mit Cecilia Herrero-Laffin wurde also eine Künstlerin ausgewählt deren künstlerische Biografie eng mit Wandbildern verknüpft ist und die seit den 1990er-Jahren gesellschaftskritische Wandbild-Projekte etwa zum Gedenken und zur Mahnung der Geschichte der Eroberung und des Widerstands Lateinamerikas in u.a. Hamburg, Bremen, Ancona (Italien) oder zum 50-jährigen Holocaust Gedenken in Hamburg realisiert hatte.
Rückblickend erinnert sich die Künstlerin:
„Eine Bekannte, die mit der Anaconda-Gruppe in Verbindung stand, brachte die Idee eines kollektiven Projekts ein: die Gestaltung eines Wandgemäldes an einer Straßenbahnhaltestelle in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der genannten Gruppe. Ziel war es, eine Wand zu intervenieren, die regelmäßig für sexistische Schriftzüge und Werbematerialien missbraucht wurde.
Zu Beginn wurde in Erwägung gezogen, ein gemeinsam gestaltetes Banner anzufertigen und an der Wand anzubringen. Im Verlauf der ersten Planungstreffen wurde jedoch deutlich, dass die Umsetzung dieser Idee mit erheblichen logistischen Herausforderungen verbunden war – insbesondere aufgrund der Lage der Wand, unmittelbar an einer Straßenbahnlinie mit einer Taktung von 15 Minuten.
Über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr fanden regelmäßige Treffen statt, bei denen wir konzeptionelle Fragen diskutierten, geeignete Bildmotive auswählten und technische Umsetzungsstrategien entwickelten. Schrittweise nahm das Projekt konkrete Gestalt an.
Letztlich entschieden wir uns für die Verwendung fotografischer Drucke, die an der Universität aufgenommen wurden und Aspekte des alltäglichen Lebens und der akademischen Arbeit von Frauen in diesem institutionellen Kontext dokumentieren.“ (Cecilia Herrero-Laffin in einer Mail im Mai 2025)
Nachdem die Arbeitsgruppe die Form ihrer ‚Intervention‘ gefunden hatte, wurden die aus fünf unterschiedlich großen, mit verfremdeten Fotografien bedruckten Alu Dibond-Platten auf die zentrale Außenseite des Parkhauses gegenüber der Haltestelle angebracht, die vom Bahnsteig aus ansichtig waren. Eine Haltestelle ist ein gleichzeitig ungewöhnlicher und schwieriger Ort für ein Kunstwerk, weil die Aufmerksamkeit der potentiellen Betrachtenden viel Zerstreuung findet: An Haltestellen wird gewartet, gelesen, sich unterhalten, Smartphone-Bildschirme, Anzeigetafeln, andere Personen usw. betrachtet, gegessen, gedrängelt etc. und nebenbei schweift der Blick auch an den Rändern der Station entlang. Innerhalb dieses belebten und sich dauernd verschiebenden Settings positioniert Cecilia Herrero-Laffin ihre um ein Bildzentrum gruppierte Arbeit.
Das Wandbild „Uni Alltag - Frauen in der Universität“ besteht aus fünf unterschiedlich großen bedruckten Platten, auf denen verfremdete und collagierte Fotografien aus den unterschiedlichen Bereichen der Universität Bielefeld zu sehen sind. Dass es sich um die Bielefelder Uni handelt, wird über Einsprengseln wie dem Leitsystem über Buchstaben, baulichen Besonderheiten im Hauptgebäude erkennbar. Ein Titel oder ein Vermerk auf die Künstlerin sind vom Bahnsteig aus nicht zu erkennen. Damit konkurriert die nicht-signierte Arbeit mit den Graffitis und Takes. Die Blicke der Betrachtenden weisen also zuallererst dem Kunstwerk seinen Status zu.
Auf der Wand des Parkhauses gruppierten sich vier Platten um eine zentrale Darstellung, die ein junges, androgyn gelesenes Gesicht zeigt, das den Betrachtenden ernst entgegenblickt. Die zentrale Nahansicht auf das Gesicht wirkt wie hinter (einer) Glas(wand) bzw. wie eine Erscheinung an einem Ort, der Nähe und Ferne durch das Ein- und Aussteigen stetig variiert und orchestriert. Drumherum gruppieren sich vier rechteckige, unterschiedlich große Platten: Die Platten selbst sind in sich zum Teil wiederum unterteilt. So zeigt eine Platte zwei Angestellte der Mensa in Arbeitskleidung und mit Haarnetzen, die im Begriff sind, Essen in große und kleine Servierschüsseln zu füllen. Die Arbeiterinnen wirken ruhig und konzentriert. Über ihnen sind schemenhaft weitere an Tischen sitzende Kolleginnen zu sehen. Am unteren Rand dieser Platte sitzen essend andere Personen – allerdings ohne Arbeitskittel.
Eine andere Platte zeigt Studierende auf ihren Wegen in der Uni: ein Hin und Her mit Vorder- und Rückenansichten, Schriftfetzen, die wie aus den Augenwinkeln wahrgenommen, auftauchen und „re le racisme“, „rabatz“, „emanzip“ zu lesen geben und so eine Stimmung evozieren. Daneben finden sich Darstellungen von Personen über Laptops oder Bücher gebeugt. Die repräsentierte menschliche Universitätslandschaft setzt sich aus Typen zusammen – so sehen wir junge, modische, BIPOC, weiße, weiblich gelesene Personen mit und ohne Kopfbedeckungen neben den Arbeiterinnen und einer männlich gelesenen Person mit Kleinkindern auf dem Arm und an der Hand.
Die unterste Platte zeigt in Bewegung begriffene Beinpaare und -knäuel: Wir sehen ein stillgestelltes Rennen beiger Highheels neben dunklen Halbschuhen und Sneakern. Im Wogen dieser Bewegungen befindet sich aus der Mitte versetzt eine statisch wirkende, den Boden wischende Frau im blauen Kittel. Das an Lapislazuli erinnernde Blau bündelt den Blick der Betrachtenden und erinnert in seiner Farbigkeit zugleich an die kostbaren blauen Umhänge von Marien-Darstellungen und den ‚Blaumann‘ der Fabrikarbeitenden.
Die fünf Bild-Platten spiegeln das Wogen zwischen Stillstand und Bewegung an der Haltestelle und zeigen gleichzeitig einen Kosmos von Arbeit an der Universität. Während landläufig die Universität mit Lernen, Lehren und Verwalten verbunden wird, öffnet Cecilia Herrero-Laffin den Blick für Arbeiten, die neben dieser hochvalidierten Arbeit den reibungslosen Ablauf des Uni-Alltags garantieren: Cecilia Herrero-Laffin stellt diese vermeintliche „niedere“ Arbeit visuell gleichberechtigt neben die andere und entwirft damit einen inklusiven universitären Kosmos.
Durch die stetige Veränderung des universitären Baukörpers kam es 2022 zur Situation, dass das Parkhaus abgerissen werden sollte. Dafür musste das mittlerweile auch durch die Witterung angegriffene Kunstwerk deinstalliert und restauriert werden. Es wurde abgehängt und verpackt. Nun war es nicht mehr zu sehen und die Sticker auf der nunmehr wieder freien Parkhauswand blühten wieder. Mehrere Initiativen zur Restaurierung und Reinstallation von Cecilia Herrero-Laffins Arbeit wurden von Seiten der Gleichstellung und des Zentrums für Ästhetik unternommen sowie Gelder beim Rektorat, der Universitätsgesellschaft und dem AStA eingeworben. Die Suche nach einem neuen Standort wurde intensiviert, nachdem klar geworden war, dass sich die Neuerrichtung der Parkhäuser hinziehen würde.
Im Wintersemester 2023/24 kam eine weitere Initiative zur Reinstallation des Bildes hinzu. Über die Bielefelder Kunsthistorikerin Dr. Irene Below erfuhr die neu eingestellte Dozentin der Bild- und Kunstgeschichte, Dr. Anja Herrmann, von diesem Projekt und lud Cecilia Herrero-Laffin in ihr Seminar „Zur Praxis des Kuratierens“ ein. Aus diesem Treffen folgte die Kontaktaufnahme zum Gleichstellungsbüro und Jutta Grau und zu Simone Anderhub und Wilfried Schüer vom Zentrum für Ästhetik. Aus diesen Begegnungen entstand ein Nebenprojekt – und zwar wurde eine Ausstellung mit Arbeiten von Cecilia Herrero-Laffin und mit Stick-Arbeiten der Künstlerinnengruppe „Experts in the World Unite!“, die sich aus jungen geflüchteten Künstlerinnen aus Syrien und Afghanistan zusammensetzt, für sechs Wochen unter dem Titel „In der Fremde“ anlässlich des Internationalen Frauentags in der Universitätsbibliothek gezeigt. Diese Ausstellung fand bei den Besuchenden viel Zuspruch. Zugleich war die Ausstellung eine erfolgreiche Kooperation von Gleichstellung, Kunstwelt und Wissenschaft.
Parallel dazu lief die Suche nach einem neuen, geeigneten Ort für das abgehängte Wandbild. Ein Ort im Freien wurde aufgrund der dem Kunstwerk zusetzenden Witterung ausgeschlagen. Diskutiert wurden Orte im Hauptgebäude und im X-Gebäude, hier speziell Mensa oder Foyer. Favorisiert und letztlich ausgewählt wurde das Foyer.
Das Wort Foyer leitet sich aus dem Französischen von Feuerstelle und Herd ab, also einem Ort des Zusammenkommens und der Gemeinschaft, der überdies häufig weiblich konnotiert wird. Im heutigen Sprachgebrauch ist das Foyer ein Vorraum oder eine Wandelhalle. Als solche übernimmt sie ähnliche Funktionen wie eine Haltestelle, sie ist ein Ort von Stillstand und Bewegung und wirkt verbindend wie ein Scharnier. Die Verlagerung des Wandbildes in den Innenraum ging jedoch mit mehreren Veränderungen in der Betrachtungsweise einher: Zum einen wurde die Anordnung der Tafeln verändert, zum anderen ist durch die Nähe zum Treppenflügel eine Spannung von Nähe und Ferne zu den einzelnen Tafeln entstanden, die beim Näherkommen die Motive in Farben und Pixel auflöst. Die veränderte Anbringung sorgt zudem dafür, dass Teile einiger Tafeln in den ersten Stock reichen und von der dortigen Cafeteria aus ansichtig werden. Während die Gleise an der Haltestelle eine Annäherung an die Tafeln verunmöglichten und das Wandbild so rein auf Fernwirkung ausgerichtet war, etabliert die neue Hängung mit einem zusätzlichen Schildchen, das es als Kunst ausweist, andere Wahrnehmungsoptionen, die eine Interaktion mit den Vorbeilaufenden suggerieren und unaufdringlich zum Betrachten des Gesamtwerkes einladen.
Das ehemalige Protestbild hat nun seinen Platz innerhalb der universitären Architektur gefunden. Mit dieser Website wollen alle Beteiligten an die bewegte und politische Geschichte und Komplexität des Bildes, die Leistung von Cecilia Herrero-Laffin und die Zusammenarbeit über uniinterne Grenzen hinweg erinnern. Am 25. Juni 2025 wird Cecilia Herrero-Laffins 2009 erstelltes Wandbild am neuen Ort feierlich mit einem Festakt willkommen geheißen.