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Cottagecore oder die Wiederverzauberung der Welt

Ein Beitrag von Sarah Leal Pinto

Weiblich gelesene Person streichelt Kuh auf grüner Wiese. Sie hält einen Blumenstrauß in der Hand. Im Hintergrund weiden weitere Kühe.
Foto: Cottonbro Studio / Pexels

Frühjahr 2020: Die Covid-19 Pandemie bringt die Welt zum Stillstand. Dystopische Bilder von leer gefegten Städten, dafür umso überfüllteren Krankenhäusern verbreiten sich rasend schnell um den Globus. Endzeitstimmung.

In dieser latent bedrohlichen Atmosphäre erblüht ein digitales Phänomen. Zart und frühlingshaft wie die Bilder, auf die diese visuelle Erscheinung rekurriert, verschmelzen hier Ästhetik und Ethos (altgriech: „Gewohnheit, Sitte, Sinnesart) ineinander.

Gemeint ist Cottagecore. Ein Trend, eine Ästhetik, ein Lifestyle. Cottagecore ist die Verkörperung heilsamen Rückzuges, kreativer Handarbeit und der Liebe zur Natur. Sorgsam kuratierte Nostalgie erzeugt Bilder eines idealisierten Lebens auf dem Land. Denken Sie an sonnenbeschienene Reetdächer, von Ackerwinde umschlungene Gartenzäune, wild wuchernde Bauerngärten. Die Protagonist*innen schreiten in feinster Jane Austen Manier über Wiesen und Felder, picknicken auf rotkarierten Decken und tragen ihre weißen mit Lochspitze versehenen Kleider zur Schau. Eine ländliche Idylle, heilsam und erbaulich.

Cottagecore: Mehr als das Zelebrieren einer romantischen Utopie?

Cottagecore stellt ein Paradox dar: Während dieser Lifestyle zunächst anti-modern anmutet, findet die Auslebung dieses Lebensstils doch überwiegend im digitalen Raum statt. Die öffentliche Inszenierung des Privaten über die sozialen Medien gehört zu Cottagecore wie der obligatorische Strohhut oder das Backen eines Kuchens. Moderne Technologie wird für die Verbreitung und den performativen Akt der Selbstinszenierung genutzt, während zeitgleich Werte und Bilder einer entschleunigten und naturnahen Lebenswelt erzeugt werden.

Cottagecore steht für eine wachsende Ablehnung von Hustle Culture und den Workaholics aus Silicon Valley. Rückzug in die Natur, Entschleunigung und das Zelebrieren einfacher Lebensfreuden sind allerdings keine neuen Ideen. Die Hippiebewegung der 1960er und 70er Jahre vertrat bereits ähnliche Werte. Allerdings sind viele der heute verwendeten Bilder und Symbole der Romantik entlehnt, welche um das Ende des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert entstandenen ist. Man könnte Cottagecore also als eine Form der digitalen Romantik verstehen.

Cottagecore: Ursprünge und Motive

Zwei Autoren des 19. Jahrhunderts, auf die sich die Akteur*innen des Cottagecore gerne berufen, sind Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson. Diese stehen stellvertretend für die Philosophie des amerikanischen Transzendentalismus. Dessen Ursprünge liegen im deutschen Idealismus. Hinzu kamen Motive der englischen Romantik und indischer Mystik. Weitere Motive des amerikanischen Transzendentalismus sind eine liberale, eigenverantwortliche und naturnahe Lebensweise. Der amerikanische Transzendentalismus kann als Gegenerzählung zur Industriellen Revolution sowie einer Entfremdung von der Natur durch zunehmende Urbanisierung verstanden werden. Speziell Emersons Transzendentalismus legt seinen Fokus dabei auf die sinnliche Erfahrbarkeit der Welt durch das Individuum.

Während sich in den 2010er Jahren langsam die kollektive Aufmerksamkeit auf die aktuellen Krisen wie den Klimawandel, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, Umweltverschmutzung und Massenaussterben richtete, wurde der Samen des Cottagecore in der digitalen Sphäre gesät. Die Wurzeln von Cottagecore liegen in den frühen 2010er Jahren auf Tumblr, hier nahm die digitale Romantisierung des Landlebens ihren Anfang. Von hier aus breitete sich Cottagecore langsam über weitere visuell fokussierte Plattformen wie Instagram und TikTok aus. Zum Trend wurde Cottagecore allerdings erst im Frühjahr 2020, beschleunigt durch die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie.

Die Inszenierung des Privaten

In Anbetracht einer immer bedrohlicheren Außenwelt bekam die Kunst aus der Selbstisolation eine genussvolle Tugend zu machen einen neuen Stellenwert. Global gesehen waren wir mehr denn je miteinander verbunden, jedoch paradoxerweise dabei auf das eigene Individuum zurückgeworfen. Der totale Rückzug in das Private.

Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno analysiert in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard den gesellschaftlichen Gehalt des Privaten. Anhand einer Betrachtung des bürgerlichen Interieurs erklärt er den Wohnraum zur Bühne der Inszenierung von bürgerlicher Innerlichkeit. Hier in den eigenen vier Wänden finden wir unser Refugium vor, einen Ort über den wir scheinbare Kontrolle ausüben können, versinnbildlicht durch das Dekorieren und Einrichten. Das jegliche Geschmacksbildung und materiellen Gegenstände der kapitalistischen und somit gleichförmigen Warenproduktion, sowie ihrer Werbung entspringt, wird geflissentlich ignoriert. Indem wir unsere Wohnung individuell dekorieren geben wir uns der Illusion hin, Kontrolle über die Welt zu erlangen.

Im Sinne der Dialektik Adornos kann man Naturromantik oder Cottagecore als Reaktion auf krisengeschüttelte Zeiten betrachten. Das Individuum fühlt sich einer übermächtigen, von außen einwirkenden Macht ausgesetzt (in diesem Fall einem Virus) und zieht sich dabei in eine innere Mystik zurück. Im Privaten erschafft das Individuum sich eine Welt, die verzaubert ist und verändert dadurch wiederum den Blick auf die Welt.

Das Mystische und das Romantische bringen eine scheinbare Sinnhaftigkeit mit sich und rechtfertigen somit auch die eigene Existenz im großen Kosmos. Somit erlangen wir durch das Backen von Brot, dem Lesen von Klassikern der Weltliteratur und kontemplativen Spaziergängen in der Natur eine sinnlich erfahrbare Berechtigung des menschlichen Daseins.

Quellen

Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, hg. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morrs und Klaus Schultz. Frankfuhrt am Main: Surkamp Verlag 1986.

Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München: C.H.Beck 2011

TRACKS: Cottagecore und politische Unruhen | ARTE https://www.youtube.com/watch?v=aUGjtD2Dt_Y (Aufruf: 07.12.22)


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